Regierung auf Stelzen?

© Eric Fricke

Was, Freunde und Nachbarn, soll eigentlich die ganze Aufregung um Hartz IV? Im Osten gibt es ja schon eine Neuauflage der Montagsdemonstrationen – da haben wohl einige die Antrittsrede von Horst Köhler etwas wörtlich genommen, was? Ganz klar, wir brauchen Reformen, denn die hohe Arbeitslosigkeit ist schließlich eine gewaltige Herausforderung für unser Wirtschaftssystem, nicht wahr? Und außerdem kann es nicht angehen, dass sich die Arbeitslosen in der sozialen Hängematte ausruhen: Sie müssen zur Jobsuche motiviert werden, ja, und da muss man diese faulen Säcke halt ein wenig unter Druck setzen. Und überhaupt, es wird ja alles besser, denn der Aufschwung naht. Muss ja wohl; der treue Stammleser wird sich erinnern: Diesen Satz habe ich schon einmal vor etwa einem Jahr geschrieben. Es gibt auch bereits erste Indizien für ein Wirtschafts-Hoch: Der Export brummt! Wenn es den notleidenden Unternehmen wieder besser geht, werden die wieder Leute en masse einstellen. Und wenn wir dann alle brav mindestens 40 Stunden in der Woche arbeiten, sind unsere Arbeitsplätze auch sicher, denn es gibt bekanntlich keine bessere Arbeitsplatzgarantie als ein gesundes Unternehmen. Ja, und bis es soweit ist, gibt es in Gottes Namen den einen oder anderen schmerzhaften Einschnitt, da müssen wir gemeinsam durch. Das nennt man Solidarität! Ja, vor allem aber sollten wir endlich damit aufhören, über Managergehälter zu diskutieren. Die Jungs (Mädels gibt's da ja kaum welche) haben sich das mühsam erarbeitet, ohne die geringste fremde Hilfe – weshalb also sollten sie von ihren paar Milliönchen etwas abgeben?

Lügen haben bekanntlich kurze Beine, und eigentlich könnte ich mich nach dem Schreiben des ersten Absatzes als Henri de Toulouse-Lautrec ausgeben. Da ich allerdings nur wiedergebe, was uns tagtäglich erzählt wird, vermute ich, dass wir von Liliputanern regiert werden. Ob die alle heimlich Stelzen benutzen? Da bekommt es schon einen tieferen (sic!) Sinn, wenn man liest, dass Lafontaine den Kanzler absägen will...

"Die hohe Arbeitslosigkeit ist schließlich eine gewaltige Herausforderung für unser Wirtschaftssystem". Selten so gelacht, Freunde und Nachbarn, denn eben dieses Wirtschaftssystem ist ja die Ursache der Massenarbeitslosigkeit! Naiverweise sollte man annehmen, dass da die Reformen ansetzen müssten, aber nein, es müssen die Arbeitslosen zur Jobsuche motiviert werden. Ähem – welche Jobs denn? So frei nach dem Motto: "Wer will, kriegt auch Arbeit"? Könnte es sein, dass jemand, der achtzig oder hundert erfolglose Bewerbungen verschickt hat, ob einer solchen Unterstellung ein klitzekleines bisschen verstimmt ist?

Wer nach einem Jahr keinen adäquaten Job gekriegt hat, muss nehmen, was er kriegt. Dafür hat man sich also aus- und weiterbilden lassen oder hat jahrelang studiert, um nun in einem Stadtpark Bonbonpapier und gebrauchte Spritzen einzusammeln? Hey, ich meine, das ist ein wichtiger Job, und ich habe Respekt vor jedem, der ihn macht. Aber wozu soll man denn bei solchen Perspektiven überhaupt noch eine Ausbildung machen? Aber immerhin, "Pianisten müssen nicht auf dem Bau Steine schleppen". Ah ja, und gilt das auch für Gitarristen oder muss ich vorsichtshalber auf Tasteninstrumente umschulen? Gott, unsere bodenständigen Politiker!

Aber sprechen wir doch mal über den Aufschwung. Angekündigt ist er ja, wie gesagt, schon lange. Deutschland exportiert wie wild. Ist das nicht seltsam? Da haben wir doch untragbar hohe Lohnkosten, die die Produktion sowas von verteuern. Aber im Ausland sind die Leute offenbar so blöd, dass sie den ganzen teuren Krempel "made in Germany" kaufen. Haben die noch nicht mitgekriegt, dass Geiz geil ist? Der Binnenmarkt hingegen schwächelt – kein Wunder, wenn jeder aus Angst vor der Arbeitslosigkeit sein Geld zusammenhält. Aber die Sparerei nützt ja auch nichts, Leute. Nach einem Jahr ohne Job zieht euch der Peter Hartz die Kohle ohnehin aus der Tasche. Es ist aber auch kein Wunder, dass den Leuten immer mehr die Zähne klappern angesichts der Diskussionen um den wirtschaftshemmenden Kündigungsschutz. Das amerikanische "hire and fire" soll Arbeitsplätze schaffen? Wer übrigens in die Arbeitslosenversicherung einzahlt, durfte sich neulich beim Lesen des "Stern" die Augen reiben bei der Feststellung, dass rund die Hälfte jener 6,5 % vom Bruttolohn anschließend sachfremd ausgegeben wird. Nun denn...

Wir sind ja schon so weit, dass nicht einmal ein funktionierendes Unternehmen und eine engagierte Belegschaft den Arbeitsplatz garantieren. Nehmen wir Kadus in Lenzkirch. Kerngesund, erstklassig in der Branche positioniert, hochwertige Produkte, 40-Stunden-Woche. Bums, der Laden wird vom Mutterunternehmen Wella (das wiederum zu Procter & Gamble gehört) zugemacht – es werden 280 Leute kurzerhand auf die Straße gesetzt. Und das ausgerechnet in einer ohnehin strukturschwachen Gegend, wo Kadus zu den größten Arbeitgebern gehörte. Und schon bröckelt es bei den Zulieferern, hat die Gastronomie Einbußen, sinken die Grundstückspreise. Der Lenzkircher Kämmerer hat vermutlich schon Albträume wegen des Gewerbesteuerausfalls. Aber Hauptsache, Wella ist den Konkurrenten aus den eigenen Reihen los. Und Procter & Gamble hat, so ist zu lesen, den Gewinn noch ein Stückchen nach oben gedrückt.

Was heißt hier also "Solidarität"? Sollten wir nicht besser von "Opfern" und "Tätern" sprechen? Es fehlt an Geld? Blödsinn, es ist genug da. Man muss es nur da holen, wo es ist. Fangen Sie jetzt aber bloß nicht wieder von den armen Managern an, die selbstlos auf einen Teil ihres Einkommens verzichten! Eine der Legenden unserer Zeit besagt, dass die das alles ausschließlich aus eigener Kraft geschafft haben, dass sie als Wirtschaftskapitäne Wertschöpfer sind. Ja nu, es soll so ein Wirtschaftsboss ja getrost ordentlich verdienen, aber die "vom-Tellerwäscher-zum-Millionär"-Story können sie sich dahin stecken, wo die Sonne nicht hinscheint. Haben die Herrschaften nicht kostenlos die Schule besucht und von der Lernmittelfreiheit profitiert? Durften sie nicht kostenlos studieren? Und heute? Lehnen sie etwa Subventionen als staatlichen Eingriff ab? Oh nein, natürlich nicht. Aber im Gegenzug wird alles Menschenmögliche getan, um jeden Cent an Steuern zu vermeiden. Da verlegen die Bosse auch schon mal den Wohnsitz ins Ausland, wegen der Erbschaftssteuer. Ach so, richtig: Wir sprechen hier natürlich nicht über die Gründergeneration, die den Laden tatsächlich mit ihrer eigenen Hände Arbeit hochgezogen, sondern über die Erben, die sich ins gemachte Nest gesetzt haben. Ich mag mich irren, aber mir scheint, als wären die Gründerväter Krupp, Porsche, Daimler, Benz oder Horch (lateinisch: Audi) schon seit ein paar Jahren tot. Und die Wertschöpfung? Ja, steht denn der Schrempp am Fließband und schraubt Hinterachsen zusammen? Gibt es in der deutschen Industrie keine Belegschaften? Es wäre doch eine interessante Frage, wer leichter zu ersetzen ist: Der Wertschöpfer Schrempp oder der Kfz-Meister in der Qualitätssicherung im Transporterwerk? Wenn ich mir aber so anhöre, was mir mancher Sprinter-Fahrer erzählt, hat man den betreffenden Meister offensichtlich bereits vor Jahren entlassen und nicht mehr ersetzt...

Überhaupt, unsere Autohersteller (um mal kurz, aber nicht all zu weit vom Thema abzuweichen): Immer mehr dieser Wirtschaftszugpferde gehen dazu über, die Autos ohne Garantie in den Handel zu bringen. Ohne Garantie? Ja, wieso denn? Die geben doch jetzt sogar schon zwei Jahre? Kleiner Irrtum: Ihr neuer Mercedes hat keine Garantie mehr. Statt dessen gibt es nur noch die gesetzliche Gewährleistung, mit der der Kunde schlechter gestellt ist als mit der Garantie. Spätestens, wenn Ihre Kiste nach etwas über einem Jahr den Geist aufgibt, dürfen Sie, lieber Leser, beweisen, dass der Schaden schon ab Werk angelegt war. Aber schon während des ersten Jahres kann man Pech haben. Wurden bislang während der Garantie auch Verschleißschäden anstandslos übernommen, ist das bei der Gewährleistung nicht mehr der Fall. Wenn im Extremfall die Maschine nach einem halben Jahr verröchelt und der Hersteller nachweisen kann, dass der Schaden nicht gewissermaßen "eingebaut" war, sondern nachträglich entstanden ist, bleibt der Kunde auf den Kosten sitzen. Es sei denn, er hat eine Werkstatt, die kulant genug ist, den Schaden zu übernehmen. Na, glauben Sie immer noch, dass sich unsere Konzerne in irgend einer Weise dem Wohle ihrer Kunden verpflichtet fühlen? Ein Konzern hat nur drei Ziele: 1. Kohle, 2. noch mehr Kohle und 3. noch viel mehr Kohle. Aber das nur so nebenbei...

Also, seien wir mal optimistisch; gehen wir davon aus, dass der Aufschwung kommt. Dann ist vor allem eines sicher: Die Unternehmen werden 1. Kohle, 2. noch mehr Kohle und 3. noch viel mehr Kohle machen. Aber weshalb sollten dann Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn fleißig Arbeitszeitverlängerungen propagiert werden? Am Großteil der viereinhalb Millionen Arbeitslosen wird der Aufschwung daher spurlos vorbeigehen; garantiert ist, dass keine viereinhalb Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Punkt. Dafür trägt der bereits gefeuerte Teil der Bevölkerung praktisch die gesamte Reformlast. Das wundert aber nicht weiter, schließlich leben wir in einem Lande, in dem ein Ex-Banker Bundespräsident und der für die Sozialreformen Zuständige Vorstandsmitglied bei Volkswagen ist.

Nur der Gerhard Schröder, der wundert sich, warum keiner seine Reformen mag. Ob es ihm mal jemand sagen sollte?

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