Eine Zeitreise

© Eric Fricke

Eine Menge verpasst
Sein Name sei Friedrich Dempflinger. Oder meinetwegen Gantenbein. Oder von mir aus Godot. Ich hatte noch nie ein besonderes Talent darin, Namen für meine Protagonisten zu erfinden. Ist ja auch egal. Es ist Januar 1955. Gegen acht Uhr steigt Dempflinger in seinen VW Export. Die Älteren unter Ihnen werden sich vielleicht erinnern: Das war das Käfermodell mit den Bügeln an den Stoßstangen. Einige Kilometer weiter, auf der Landstraße, nimmt das Unheil seinen Lauf: Als Dempflinger in einer von Glatteis überzogenen Kurve zurückschaltet, bricht das Heck des Käfers aus, das Fahrzeug brettert gegen einen Baum. Es gibt in jener Zeit weder ESP noch ABS – und natürlich auch weder Sicherheitsgurte oder Airbags. Als die Feuerwehr mit ihrem Hanomag ankommt und Dempflinger aus dem Wrack schält, ist der bereits bewusstlos.

Dempflinger liegt in einem tiefen Koma, während draußen, vor der Krankenhauspforte, die Welt weiterläuft. Buddy Holly stürzt mit dem Flugzeug ab, John F. Kennedy wird ermordet, die Berliner Mauer wird errichtet, sowjetische Truppen marschieren in Prag ein, die ersten Menschen landen auf dem Mond... und 1975, ein Jahr nach der Ölkrise, erwacht Dempflinger aus seinem Koma. Er staunt darüber, was in der Zwischenzeit alles passiert ist, er wundert sich, weshalb die Ärzte die Haare so lang tragen, er freut sich, weil im Radio immer noch Rock'n'Roll läuft. Kein Zweifel, die Welt hat sich geändert, vor allem in den letzten zehn Jahren. Übrigens haben jetzt viele Autos Sicherheitsgurte für die Vordersitze, was Dempflinger sehr begrüßt. In den Zeitungsstapeln, die er durcharbeitet, stößt er auf etliche alte Bekannte. Franz Josef Strauß zum Beispiel.

Zweifellos, Dempflinger hat eine Menge verpasst. Die Leute scheinen auch etwas lockerer miteinander umzugehen als früher. Es ist natürlich auch alles ein wenig schneller geworden. Der Arzt erzählt stolz, dass die Klinik ein eigenes Rechenzentrum habe, ein Computer steht dort, man habe eine Wand herausreißen müssen, um ihn ins Gebäude zu bekommen. Supermodern und teuer. Alleine der Lochkartenleser – ein Vermögen! Und Farbfernsehen gibt es jetzt! Und drei Fernsehprogramme, na ja, ist vielleicht ein wenig übertrieben, wer soll denn das alles anschauen, aber immerhin. Und die Japaner haben so winzige Radios gebaut ohne Röhren. Autos wollen sie nun wohl auch nach Deutschland exportieren, die Japse – ausgerechnet nach Deutschland, wo die besten Autos der Welt gebaut werden! Na, die werden noch ganz schön dumm gucken mit ihren motorisierten Reisschüsseln!

Nun, Dempflinger stellt bald fest, dass die Entwicklung im Wesentlichen recht linear verlaufen ist. So gesehen erstaunt es ihn auch nicht zu sehr, dass 1969 die erste Mondlandung stattgefunden hatte. An die Anfänge der Raketentechnik kann er sich noch erinnern. Die V2 zum Beispiel, die hatte Dempflinger als Fünfzehnjähriger in einer Wochenschau gesehen. Die Wunderwaffe des Führers und so. Da war schon der Wernher von Braun dabei, na ja, nomen est omen. Und einen Fernseher gab es Anno 55 in Dempflingers Stammkneipe auch, schwarz-weiß natürlich. Hatte ein Vermögen gekostet, bescherte dem Wirt aber regelmäßig ein volles Lokal. Im Grunde war das alles so ein bisschen wie in den alten Kinofilmen aus den USA, diese Pseudo-Science-Fiction, wo der seinerzeit aktuelle Stand der Technik einfach in die Zukunft interpoliert wurde (wobei diese Filme für Dempflinger natürlich immer noch aktuell waren); es wurde einfach alles ein wenig größer aufgeblasen. So konnte sich Friedrich Dempflinger auf ein neues Leben einstellen, und wenn er nicht gestorben ist undsoweiter.
Nun, vielleicht haben Sie, Freunde und Nachbarn, auch den Film "Goodbye Lenin" gesehen. Eine linientreue DDR-Bürgerin fällt ins Koma. Als sie wieder erwacht, gibt es die DDR nicht mehr. Ihr Sohn verheimlicht das vor ihr, da ein großer Schock tödlich sein könnte. Klasse Film mit einer Menge Situationskomik. Erinnern Sie sich an die Szene mit der Coca-Cola-Fahne?

Goodbye soziale Marktwirtschaft
Nun, in gewisser Weise hätte man den Film auch hier im Westen spielen lassen können. Nehmen wir mal an, Dempflinger hätte 1985 seinen Manta gegen einen Baum gesetzt und wäre heute, im Jahr 2005, wieder erwacht.

Die Achtzigerjahre hatten ja den unschätzbaren Vorteil, dass man eine konservative, den Kapitalismus hofierende Regierungspartei schon am Namen erkannte.
Erinnern Sie sich noch? Kohl, Reagan, Thatcher. Birne, Cowboy, eiserne Lady. Und nicht zu vergessen der Eiserne Vorhang. Die Friedensbewegung. Space Shuttles. Computer für den Hausgebrauch – meine Güte, was soll man denn damit anfangen? Benzin kostete schon damals 1,20. Allerdings in D-Mark.

Ah. Es ist soweit: 2005. Dempflinger ist erwacht und liest Zeitung. "Peter Hartz? Was hat denn der für ein Ministerium unter sich?" – "Ähm, das ist kein Minister, der ist Manager bei VW." Vielleicht sollte man es dem Patienten nicht stückchenweise beibringen, sondern ihm gleich die volle Wahrheit ins Gesicht schleudern? Etwa so: "Hallo, schön, dass du wach bist. Die Bundesrepublik, in der du aufgewachsen bist, existiert seit 1990 nicht mehr, da wir die ehemalige DDR eingemeindet haben. Leider haben wir uns dabei ein wenig übernommen. Außerdem haben wir über viereinhalb Millionen Arbeitslose, Tendenz steigend, aber keine Sorge, wir kriegen das in den Griff, weil jeder Arbeitslose nach 12 Monaten auf Sozialhilfe gesetzt wird. Die heißt jetzt anders, aber wenn du schon neue Wörter lernen musst, kannst du dir gleich noch die neue Rechtschreibung draufschaffen. Kann ich das Markstück aus deiner Geldbörse haben? Ich sammle nämlich historische Münzen. Ach so, ja, wir haben inzwischen eine neue Währung. Die heißt Euro. Ein Euro entspricht etwa zwei Mark. Theoretisch jedenfalls. Praktisch nicht, aber das wirst du schon sehen, wenn dir das Krankenhaus die Rechnung überreicht. Die Medikamente, die wir dir verabreicht haben, zahlt die Krankenkasse nicht mehr, und dann wäre da noch die Eigenleistung pro Tag im Krankenhaus, tja, das läppert sich über die Jahre. Und natürlich die Quartalszahlungen. Hoffen wir, dass du noch etwas Geld übrig hast; deine Familie hat nach deinem Unfall alles in Aktien angelegt. Kam ordentlich was zusammen. Aber dann haben die Typen mit den Flugzeugen, diese Saudis, das World Trade Center und einen Teil vom Pentagon in die Luft gejagt und die Börsenkurse... nun ja. Aber keine Angst wegen den Terroristen, die USA haben den Irak bereits flächendeckend bombardiert, außerdem wird hier alles überwacht. Siehst du die Kamera dort draußen neben dem umgestürzten Baum? Jaja, den muss einer der letzten Orkane umgeblasen haben. Die gibt's jetzt halt häufiger, ist ja logisch, wenn sich das globale Klima ändert, nicht wahr? Nun, was ich sagen wollte... hallo? He! Schwester! Schwester!"

Im falschen Film
2005. Ich sitze vor einem meiner fünf Rechner (Computer für den Hausgebrauch – meine Güte, was soll man denn damit anfangen?) und grüble darüber, was hier eigentlich läuft. Waren Sie mal im Kino, um sich einen Western anzuschauen? Und haben sich über die vielen Kinder gewundert? Es wird dunkel, es flackert auf der Leinwand – und es läuft ein Zeichentrickfilm. Etwa so fühle ich mich im Moment. Bin ich etwa zu konservativ, zu spießig, zu verbohrt? Ein Ewiggestriger, ein Anhänger der Früher-war-alles-besser-Fraktion? Natürlich bin ich in einer anderen Welt aufgewachsen als meine Söhne. Neulich rief der Störungsdienst wegen einer DSL-Panne an und bekam meinen Ältesten an den Apparat: "Neben dem Computer von deinem Papa muss so ein kleines Kästchen stehen. Kannst du mal gucken, ob da das grüne Lämpchen leuchtet?" Darauf Jonas, mit der ganzen Souveränität eines computererfahrenen Neunjährigen: "Ja, die Sync-Lampe vom Modem ist an."
Zweifellos war die Welt, in der ich aufgewachsen bin, erheblich einfacher und übersichtlicher. Computer? Science Fiction. Heute steht Samuel, gerade mal sechs Jahre alt, neben seiner Mutter und doziert: "Programme starten übers Apple-Menü und Beenden mit Befehlstaste-Q."

Ewiggestrig? Nun ja, immerhin habe ich seit über 10 Jahren einen Internet-Zugang. Ha, das war noch richtig Arbeit, Skripte modifizieren und an der Telefonleitung schrauben, damit der Stecker vom 2400-Baud-Modem passte. Da haben doch die jungen Leute keine Ahnung mehr, wie sich meine Generation noch abplagen musste!
Ähem.

Im Ernst: Was ist aus diesem Land geworden? Unternehmer, die Gewinnrekorde einfahren, kaum Steuern zahlen und gleichzeitig den Standort Deutschland schlechtreden. Ein Land, das überaltert und folglich immer weniger Leute in die Sozialkassen einzahlen. Es müssen Kinder her, sonst bricht das Sozialsystem zusammen! Fein, bringen wir mal wieder ein paar geburtenstarke Jahrgänge auf den Weg! Da lässt sich doch gleich Vergnügen mit Sinnvollem verbinden, nicht wahr? Aber ach, Kinder sind ein Armutsrisiko, dann doch lieber nicht. Aber gesetzt den Fall, wir nehmen das Risiko auf uns – was bitte sollen unsere Kinder in zwanzig Jahren arbeiten? Die Arbeitslosigkeit erreicht neue Rekordhöhen, die Unternehmen entlassen fröhlich weiter: Shareholder value im Himmel, geheiligt werde dein Name... wie soll ein Heer von jungen Arbeitslosen dereinst die Renten finanzieren, wenn es schon jetzt nicht mehr genug Arbeit für alle gibt?

Wertewandel
Was haben wir denn noch für Werte? Ideelle? Was soll man sich denn davon kaufen? Die Mahnungen angesichts der deutschen Vergangenheit werden zur hohlen Phrase: Folter zur Erzwingung von Geständnissen? Der Stammtisch jubiliert. Deutsche Soldaten im Ausland? Na also, wir sind wieder wer! Alte Werte taugen nichts, sie sind obsolet wie die D-Mark. Allgemeinbildung? Überflüssig in dieser hochspezialisierten Welt! Aber dann wird gleich wieder über PISA gejammert.

Neue Werte? Aber ja! Deutsches Selbstbewusstsein! Das mag die Nazis in den Parlamenten freuen, aber wie weit ist es damit wirklich her? Ich kann es nicht mehr hören: Oh Gott, was ist nur mit unseren Fußballern? Oh Gott, wir brauchen eine deutsche Leitkultur! Oh Gott, wir brauchen eine bessere Ausbildung, damit wir im internationalen Wettbewerb bestehen können! Was für eine Lachnummer! Jahrelang wird die Ausbildung vernachlässigt, weil sie zu teuer ist (wir müssen wettbewerbsfähig bleiben!) und schließlich: Oh Gott, wir brauchen Reformen! Und die wiederum bewirken, dass man nach jahrelanger Ausbildung binnen zwölf Monaten zum Sozialfall wird. Gratulation! Reformen bedeuten eigentlich eine radikale Abkehr vom Althergebrachten. Wir aber reformieren nicht, wir zementieren. Was Wunder, das die Schere immer weiter auseinanderklafft: Der Mittelstand bricht weg, die Reichen werden reicher, der Rest soll sehen, wo er bleibt. Eine Reform des zinsbasierten Währungssystems? Apage, Satanas! Es kann doch nicht angehen, dass sich Vermögen plötzlich nicht mehr von alleine vermehren dürfen! Soziale Gerechtigkeit? Das ist doch Gewäsch von Gutmenschen und Sozialromantikern! Wer es nicht nach oben schafft, ist halt zu schwach für diese Gesellschaft! Das ist soziale Evolution; die Reichsten überleben – der Kapitalist als Krone der Schöpfung!

Viele meiner Freunde und Bekannten machen die Hatz ums Mehr nicht mehr mit – selbst die, die es sich noch leisten könnten. Es ist beileibe nicht nur die Angst vor dem materiellen Absturz – manch einer hat festgestellt, dass es sich in bescheidenerem Umfang auch gut, möglicherweise sogar besser leben lässt. Man geht nicht mehr ins teure Lokal, sondern trifft sich daheim mit Freunden. Und wie früher, als man noch in der Lehre war oder studierte, bringt jeder eine Flasche Wein mit. Das Auto ist vielleicht nicht mehr das neueste, aber es läuft tadellos. Da investiert man lieber mal hundert Euro beim Aufbereiter und lässt den Wagen in optischen Neuzustand versetzen, dazu ein paar Sitzbezüge aus dem Supermarkt und man hat wieder ein schönes Gefährt, das noch einige Jahre gute Dienste leistet. Plötzlich schätzt man es wieder, wenn einem die Marktfrau nach dem Wiegen noch ein paar Kartoffeln mehr einpackt. Und weshalb tausende von Kilometern in den Urlaub fahren, wo wir den Schwarzwald vor der Haustüre haben? Man entdeckt den Charme des örtlichen Kinovereins, kein Multiplex-Palast, sondern ein Gemeindesaal, aber immer tolle Filme und nach der Vorstellung nette Leute. Oder man stellt fest, was der Theaterverein für ein hohes Niveau hat. Da kann man in der Pause sogar mit dem Regisseur ein Bier trinken. Siehe da: Es geht auch eine Nummer kleiner und macht trotzdem (oder sogar erst recht) Spaß.

Das ist natürlich ein Horror für unsere Wirtschaft! Man stelle sich vor, diese Einstellung würde um sich greifen! Die Konsequenzen: Sinkendes Wachstum, steigende Arbeitslosigkeit, höhere Staatsverschuldung. Es ist verrückt: Konsumieren wir wie blöde, bringen wir die Wirtschaft in Gang – aber auf Kosten von Umwelt und Ressourcen. Fahren wir alles um eine oder zwei Nummern herunter, schonen wir die Umwelt, unsere Nerven und unseren Geldbeutel – und ruinieren damit die Wirtschaft. Abgesehen von der Frage, wie man angesichts sinkender Reallöhne in den Konsumrausch verfallen soll. Entschuldigung, Freunde und Nachbarn, aber das wirft bei mir ernsthafte Zweifel am gesamten System auf!

Treibjagd der Reformen
Um dieses an allen Ecken bröckelnde System zu retten, jagt also eine Reform die andere. Es ist auf nichts mehr Verlass. Vor ein paar Jahren wurde propagiert, man solle privat fürs Alter vorsorgen. Wehe, man hat die falsche Anlageform gewählt und gerät nun in die Klauen von Hartz IV – dann ist das Ersparte wieder weg! Die SPD verkündet großspurig eine gewaltige Steuerreform. Toll, jetzt hat der Normalverdiener vielleicht ein paar Euro fünfzig mehr auf dem Konto, dafür steigen die Spritpreise und die Kraftfahrzeugsteuer und damit natürlich die Preise von allem, was transportiert werden muss – und das ist nahezu alles. Auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist nicht vom Tisch – und die wiederum trifft sowieso überwiegend den Normalverbraucher, denn der durchschnittliche Unternehmer bekommt die Mehrwertsteuer bekanntlich wieder zurückerstattet.

Auch die Gesundheit wird für manchen unbezahlbar: Inzwischen gibt es in Deutschland 200.000 Menschen ohne Krankenversicherung – im kleinen Österreich sind es übrigens fast genau so viele. Betroffen sind in erster Linie Kleinstunternehmer, die privat versichert sind. Wehe, man kann ein paar Monate seine Beiträge nicht bezahlen, dann fliegt man raus. In die gesetzlichen Kassen zurückzukehren, ist nahezu unmöglich. Und selbst wenn man wieder zu Geld kommt, hat keine Kasse Interesse an Leuten, die dazu neigen, in Verzug zu geraten. Die Kassen reduzieren mehr und mehr ihre Leistungen, betroffen sind aber nur die Patienten. Die Pharmaindustrie hat längst einen Ausgleich für Arzneimittelobergrenzen gefunden und verhökert immer größere Mengen an veralteten, untauglichen oder gar schädlichen Medikamenten in die Dritte Welt. Aber hallo, haben wir denn kein Arzneimittelgesetz? Ist der Export solcher Medikamente nicht gar verboten? Freilich, aber wen juckt das, wenn es genügend Schlupflöcher gibt? Dann wird durch Tochter- und Vertragsfirmen produziert oder die Ware halbfertig oder ohne Verbraucherverpackung ausgeführt – und somit werden 85 Prozent der von deutschen Firmen im Ausland vertriebenen Arzneimittel nicht von der Exportkontrolle erfasst. "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", hieß es schon zu Kaisers Zeiten, aber an die Pharmaindustrie haben unsere Altvorderen dabei wohl nicht gedacht.

Der Staat muss sparen, die Konzerne investieren ihre Gewinne entweder gar nicht oder im Ausland, der gemeine Bürger soll blechen. Ein anderes Stichwort: Privatisierung zentraler Gemeinschaftsaufgaben. Auch ein Punkt, der dem Bürger das Geld aus der Tasche zieht, obwohl das Gegenteil hätte erreicht werden sollen. Nehmen wir die Bahn. Kaum privatisiert, begann der Umbau auf maximale Kosteneffizienz. Schlechterer Service, Streckenstilllegungen, Preissteigerungen – und schon wird die Bahn immer unerschwinglicher für jene, die auf sie angewiesen wären, nämlich die, die kein Geld für ein Auto haben und/oder abgelegen wohnen.

Aber vielleicht gehen wir ohnehin besser zu Fuß, denn nachdem uns unsere Politiker jahrelang damit eingelullt haben, dass eine PKW-Maut nie kommen würde, ist diese plötzlich wieder parteienübergreifend im Gespräch. Planungssicherheit? Dass ich nicht lache: Jahrzehntelang wurden leichte Nutzfahrzeuge, die als PKW zugelassen sind, nach Gewicht besteuert, im Herbst 2004 heißt es mit einem Mal: Ällebätsch, in einem halben Jahr gilt für die Kisten die Hubraumbesteuerung, fangt schon mal mit dem Sparen an! Das gleiche Prinzip wie bei der privaten Vorsorge: Erst in Sicherheit wiegen, dann zuschlagen.

Gemüse statt Zierrasen
Es muss reformiert werden auf Teufel komm raus. Rettet das Abendland! Peter Hartz traut sich inzwischen kaum noch, in der Öffentlichkeit aufzutreten, dabei hat ein Großteil seiner ursprünglichen Reformideen fast nichts mit dem gemein, was uns die Regierung jetzt serviert. Dennoch bekommt er regelmäßig Morddrohungen.
Kann man sich über die zunehmende Wut indes wundern? Werfen wir doch einmal einen Blick ins Internet – www.arbeitslosen-hilfe-forum-deutschland.org/forum/sh kann einen schon das Fürchten lehren: "In unserem Garten bauen wir statt Zierrasen Obst und Gemüse an und dann wird fleißig konserviert. Danach geht es ab in den Wald Beeren und Pilze sammeln. Hat meine Oma nach 1945 auch immer gemacht. Nur Holz sammeln können wir leider nicht (Zentralheizung). Kleidung wird getragen, bis sie auseinanderfällt." Ein anderer Forumsteilnehmer schreibt: "Irgendwie denk ich bei Hartz4 immer noch, ich träume. Das kann doch so nicht gewollt sein?? Wenn ja, ist das doch eine Kriegserklärung gegen Die, die eh schon nicht viel hatten." Na klar. Genau so, wie sich die angebliche "Krone der Schöpfung" den Planeten untertan gemacht hat, wird die "Krone" der wirtschaftlichen Schöpfung darangehen, sich untertan zu machen, was unter einer bestimmten Einkommensgrenze liegt. Letztlich ist das beim Kapitalismus nicht anders als bei "Highlander": Es kann nur einen geben! Wer die Filme gesehen hat, weiß, wieviele Köpfe dazu rollen müssen.

In anderen Internet-Foren sehen manche Teilnehmer in Hartz IV ebenfalls eine Kriegserklärung und rufen zu Sabotage im Umfeld von Arbeitsagenturen auf: "Die wollen Krieg. Macht mal! Nix Großes oder Zerstörerisches aber Spektakuläres und Lästiges. Straßen sperren, Demos, Autoschlösser (Teure und neue Autos, LKWs) und Amtsschlösser (Personal-WC im Arbeitsamt) mit Superkleber fixieren, Sitzstreiks vor Ämtern usw."

Hartz IV hat freilich noch andere Nebenwirkungen, die durchaus im Sinne des Erfinders sein könnten: Viele der Betroffenen kündigen als erstes die Tageszeitung, den Internetzugang oder melden ihren Fernseher ab. Damit sind sie von allen wichtigen Informationsquellen abgeschnitten; ein Gesetz, das das Abhören von Feindsendern unter Strafe stellt, ist somit von vornherein überflüssig. Und wer weiß, ob Sabotage in der Agentur für Arbeit eines Tages nicht mehr als "Sachbeschädigung", sondern als "terroristische Straftat" eingestuft wird? Durchaus denkbar in Anbetracht der immer stärker eingeschränkten Bürgerrechte. Zufall, dass die Sondereinsatzkommandos der Polizei in jüngster Zeit immer mehr ins Gerede kommen? Zufall, dass Hamburg passend zum Hartz IV-Starttermin loslegt? – Der Senat verabschiedete eine Gesetzesnovelle, die unter anderem langfristige Aufenthaltsverbote, Unterbindungsgewahrsam, Videoüberwachung, verdachtsunabhängige Personenkontrolle, Rasterfahndung auch ohne drohende Gefahr sowie die Verankerung des finalen Todesschusses enthält. Außerdem enthält die Vorlage den Beschluss der Aufrüstung der Polizei mit Elektroschockern und es sollen "Blutproben bei Verdacht auf Infektionen zur Gefahrenabwehr" durchgeführt werden. Gestrichen wurde – nach heftigen Protesten der Kirche und der betreffenden Berufsverbände – das Ausspionieren von Pfarrern, Ärzten, Anwälten und Journalisten. Freunde und Nachbarn, wir sind ja keine Paranoiker. Dass hier so viel auf einmal zusammentrifft, ist höchstwahrscheinlich wirklich nur reiner Zufall. Aber dass alles so fein zusammenpasst, stimmt schon nachdenklich.

Ignorierte Alternativen
Alternativen? Es gab den Sozialismus und den Kapitalismus; Letzterer ist übriggeblieben. Der Nachteil des Sozialismus, wie ihn der Ostblock propagierte, lag in zwei Punkten: Der Unterdrückung jeglicher Bürgerrechte und in der Planwirtschaft. Das hängt unmittelbar zusammen: Wer die Produktion plant, muss auch den Markt planen und damit den Verbraucher. Es funktioniert nicht, wenn die Leute Fernseher kaufen wollen, der Plan aber die Produktion von Autos hochfahren lässt. Planwirtschaft widerspricht der freien Entscheidung, ergo muss der Konsument unmündig gemacht werden – auch politisch. Das heißt nun nicht, dass Karl Marx von Haus aus Unrecht hatte – vielleicht erging es ihm mit seinen Ideen ähnlich wie Peter Hartz. Möglicherweise lag es aber auch am Stil: Karl Marx schrieb wie jemand, der versuchte, locker und unterhaltsam zu klingen, das Resultat schien indes von jemandem zu stammen, der zwar das Konzept des Humors auf akademischer Ebene begriffen hatte, aber selbst völlig humorlos war. Das macht "Das Kapital" etwas schwer lesbar, obwohl Marx seine Gedankengänge inhaltlich eigentlich sehr gut vermitteln konnte.

Der Kapitalismus hat – je nach Standpunkt – den Vor- bzw. Nachteil, dass er sich wegen der Zinsen früher oder später vorübergehend selbst zerlegt. Leider zerlegte sich bei solchen Anlässen stets nicht nur der Kapitalismus, sondern auch in diversen Kriegen eine Menge mehr, während der Kapitalismus gleichsam "Phoenix aus der Asche" spielte und das Drama von vorn begann.

Aber, Freunde und Nachbarn, was ist mit den anderen Wirtschaftslehren los? Weshalb wird Silvio Gesell totgeschwiegen? Warum will keiner mehr etwas von – immerhin funktionierenden – Freigeldprojekt von Wörgl wissen? Gesell und Wörgls Bürgermeister Unterguggenberger hatten sich doch nie gegen eine freie Wirtschaft gestellt, im Gegenteil! Aber – igitt – die ganze Geschichte basiert in der Hauptsache auf der Abschaffung der Zinsen! Jeden anständigen Kapitalisten muss da der Brechreiz überkommen!

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren kämpfte man – wie auch heute – mit sinkendem Geldumlauf, weil der Zaster zwecks Vermehrung gehortet wurde. So klagte 1934 der französische Finanzminister Bonnet: "Die Geldhamsterung ist die Ursache unserer heutigen Wirtschaftsnot." Auch die Eidgenossen blieben nicht verschont – Bundesrat Schultheß am 15. November 1931 anlässlich eines Parteitages in Aarau: "Nach meiner Schätzung sind heute 700 – 800 Millionen in Noten von Privaten thesauriert [sprich: gehamstert, Anm. d. Autors]. Sorgen Sie in Ihren Kreisen dafür, daß dieses Geld in Zirkulation gesetzt wird. Wer Geld thesauriert, begeht ein Verbrechen am Vertrauen des Volkes!" An diesem Tage betrug der Notenstand in der Schweiz genau 1431 Millionen Franken – es liefen also demnach nur 600 – 700 Millionen Noten um, während 700 – 800 Millionen gehamstert waren!

Aber das Problem begann sich bereits 1939 zu lösen – und schon sechs Jahre später, 1945, war Europa platt; nun konnte man, ohne von Deflationen und ähnlichen Widrigkeiten geplagt zu werden, wieder von vorn anfangen. Also, der Kapitalismus funktioniert im Prinzip schon langfristig, nur braucht es halt in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen einen ordentlichen Krieg. Aber was sind schon ein paar Millionen Tote gegen die Freiheit, seinen Reichtum wachsen zu lassen?

An echten Alternativen, an Möglichkeiten, wirkliche Reformen auf den Weg zu bringen, mangelt es nicht. Schon sind in Deutschland erste lokale und regionale Freigeldprojekte gestartet (und ich werde das der Waldkircher SPD so lange aufs Butterbrot schmieren, bis hier auch eines läuft).

Aber diese Alternativen werden ignoriert – von den Medien und von den Politikern.

Jedoch, Freunde und Nachbarn, vergessen wir nicht die Sorgen und Nöte unserer Bundespolitiker, die dazu beitragen mögen, solche alternativen Konzepte zu verdrängen: Wovon sollen die leben, wenn sie aus dem Bundestag ausscheiden? Etwa von ihren mageren Pensionen? Wie auch der gemeine Bürger mit seinem Riester-Vertrag muss auch ein Politiker Eigeninitiative zeigen: Hier ein Pöstchen in einem Aufsichtsrat, da ein Beratervertrag, und irgendwie muss ein Arbeitgeber ja auch bei Laune gehalten werden. Mit Abhängigkeit von der Wirtschaft – gar mit Bestechung – hat das alles selbstverständlich überhaupt nichts zu tun. Mit Idealen, mit Zielen, mit Zukunftsvisionen oder auch nur mit gesamtheitlicher Problemanalyse erst recht nicht.

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