Waldkirch, den 29. Juni 2004

Lieber Gerhard,

inzwischen traut man sich ja kaum noch, es öffentlich zuzugeben, aber ich habe Dich auch gewählt. Ich meine, wir wollten ja beide Reformen, aber irgendwie müssen wir da aneinander vorbeigeredet haben...

Erst neulich hast Du dich wieder furchtbar darüber ausgelassen, dass die Deutschen nicht kapieren, dass das, was Du und Deine Regierungsmannschaft machen, nur zum Wohle aller ist. Ein Volk von Reformverweigerern! Offenbar blickt das keiner. Oder? Ich fürchte, der Punkt ist aber der, dass die Leute tatsächlich blicken, was Du vorhast. Anders formuliert: Den Leuten geht die Muffe eins zu zehntausend, weil sie wissen, dass Deine Entscheidungen sehr schmerzhaft sein werden. Weil sie Angst haben, abzurutschen. Arbeitslos zu sein. Leute, die ihre Familien ernähren müssen, ihr Häuschen abstottern und nun fürchten, ihr Leben künftig in einer Sozialwohnung fristen zu müssen.

Du magst nun argumentieren, dass eben diese Reformen dazu beitragen sollen, um die langfristige Existenz unseres Sozialstaates zu garantieren. Da muss jetzt halt jeder seinen Beitrag leisten. Solidarität und so. Da würde ich Dir in keiner Weise widersprechen.
Das Dumme daran ist nur, dass es keine Solidarität gibt. In unserem Land (und nicht nur da) gibt es eine Minderheit, die immer reicher wird und eine Mehrheit, die blecht. Und die reiche Minderheit trickst mit allen Mitteln, um wenig oder möglichst gar keine Steuern zu zahlen. Sie verzieht sich ins Ausland, um billig zu produzieren und entlässt hier Leute. Oder sie spart Erbschaftssteuer mit einem neuen Wohnsitz in der Schweiz. Und während immer mehr Leute arbeitslos werden, ist die reiche Minderheit der Ansicht, der Rest, der noch einen Job hat, soll gefälligst länger schaffen – und zwar ohne Lohnausgleich, auf dass noch mehr Leute entlassen werden können.

Weißt Du, Gerhard, in unserem Land gibt es immer mehr Millionäre, während es gleichzeitig immer mehr Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gibt. Wenn man bösartig wäre, könnte man sich fragen, ob da ein Zusammenhang besteht. Durch Steuerhinterziehung und Verschwendung gehen in unserem Land jährlich 100 Milliarden Euro verloren. Aber gepackt wird nur der kleine Handwerker, der mal einen Fuffi nebenher macht. Diejenigen, die ihre Kohle in einem Steuerparadies deponieren, werden mit Amnestie und einem niedrigen Steuersatz geködert. Hast Du eine Vorstellung davon, was da einem durch den Kopf geht, der ab und zu was nebenher verdient und das ehrlich bei der Steuererklärung angibt? Und weißt Du, wie das ablaufen kann, wenn man regelmäßig ein paar Euro nebenher macht? Genau: Das Finanzamt zieht einen zu Einkommensteuervorauszahlungen heran. Und weißt Du auch, wie das läuft, wenn man mal weniger nebenher verdient? Das kann ich Dir aus eigener Erfahrung sagen: Weil es in der ersten Jahreshälfte bei mir nicht so toll lief, musste ich mehr vorauszahlen, als ich eingenommen hatte! Ich musste dazu mein bereits versteuertes Einkommen aus meinem regulären Job hernehmen, worauf mir prompt die Kohle fehlte. Ich kann nämlich nicht damit drohen, Leute zu entlassen! Ehrlich, da kriegt man so einen Hals!

Eigentlich wollte ich mir für meine Arbeit ja letztes Jahr einen neuen Rechner kaufen, eins von diesen heißen G5-Teilen von Apple. Das hat das Finanzamt aber erfolgreich verhindert. Weshalb muss ich, der ich nach Feierabend ein paar eigene Kunden bediene, Steuern vorauszahlen, während ein Konzern – wie unlängst VW – die Schotten dicht macht? Ja, die haben kurzerhand an alle deutschen Werksniederlassungen die Weisung rausgegeben, die Zahlung von Gewerbesteuer einzustellen. Sauber, gell? Nun, wenn ich nicht investieren kann, bringe ich halt keine Kohle in Umlauf, um die Wirtschaft anzukurbeln. So einfach ist das. Leider ist es mir aus unerfindlichen Gründen nicht gelungen, das als Druckmittel beim Fiskus einzusetzen.

Warum setzt Du dich nicht für richtige Reformen ein? Warum werden die Steuerschlupflöcher nicht radikal dicht gemacht, womit wir gleichzeitig das komplizierteste Steuersystem der Welt vom Hals hätten? Warum werden Unternehmen, die den Hals nicht voll kriegen und ihre Belegschaft ohne Not an die Luft setzen, um in Billiglohnländern produzieren, nicht kurzerhand enteignet? Warum werden Leute, die ihre Schwarzgelder auf Schweizer Nummernkonten transferieren, nicht mit allen Mitteln strafrechtlich verfolgt und hinter Schloss und Riegel gebracht, statt sie mit Vergünstigungen zu ködern? Weil Dir die Betroffenen dann kräftig in den Hintern treten werden!

All diese Argumente habe ich in meinen Artikeln schon so oft runtergebetet – gelesen hast Du sie vermutlich nicht. Für Deine eMail hast Du ja ein Mitarbeiterteam, das schon dafür sorgen wird, dass Deine selektive Wahrnehmung erhalten bleibt. Aber frag doch mal den MdB Peter Dreßen, ob er Dir sein Exemplar von "Zur (P)Lage der Nation" leiht. Dir kann ich es ja nicht persönlich überreichen, da sonst garantiert dieser Typ neben mir steht, den ich mal auf einem Foto von Dir und Peter wegretuschieren musste: "Kommen Sie doch mal unauffällig mit..."

Nun möchte ich ja gar nicht abstreiten, dass Du als umgekehrter Robin Hood Erfolg haben kannst. Wenn die Konzerne keine Steuern mehr zahlen müssen, brummt die Wirtschaft garantiert. Blöderweise schiebst Du die Probleme damit aber nur auf. Bekanntlich basiert ja unsere Wirtschaft darauf, Energie und Ressourcen zu verbraten – und eigentlich ist jedem klar, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Irgendwann im Laufe der nächsten Jahrzehnte ist Sense. Du aber setzt ganz bewusst auf ein Pferd, das nach ein paar möglichen Zwischenspurts reif für den Abdecker ist. Und glaubst Du, die Leute wissen das nicht? Was wir bräuchten, wäre ein nachhaltiges Wirtschaftssystem, keines, das davon existiert, dass es – vermeintlich kostenlose – Bodenschätze ausbuddelt und in die Atmosphäre bläst, während Du immer noch mit Deiner "Hauptsache, der Schornstein raucht"-Mentalität daherkommst. Dito das gesamte Geld- und Währungssystem, das – natürlich auch global – zur sozialen Schieflage beiträgt. Was für ein Reformpotenzial! Man stelle sich vor, was jemand in Deiner Position für Anstöße geben könnte!

Na ja, absolut unrealistisch, das Ganze. Wie gesagt, die Wirtschaft würde Dir in den Hintern treten. Äh, nur so am Rande: Wer hat hier eigentlich etwas zu sagen? Die Wirtschaft oder die Politik? Theoretisch wir, das Volk, aber so naiv bin ich ja nun auch wieder nicht. Aber sollte dann nicht ehrlicherweise auf den Stimmzetteln statt "SPD" oder "CDU" künftig "DaimlerChrysler" oder "Volkswagen" stehen?

Das "S" in "SPD" steht für "sozial". Das glaubt inzwischen kein Mensch mehr. Die Mutterpartei auf dem Planeten Berlin ist mittlerweile Lichtjahre von der Basis entfernt. Warum, glaubst Du, habe ich zwar bei den jüngsten Gemeinderatswahlen auf der SPD-Liste kandidiert, habe mich aber standhaft geweigert, Mitglied zu werden? Die Leute hier im Waldkircher Ortsverein machen eine verdammt gute Arbeit und haben ihr Ohr am Boden. Mitglied ist man aber zwangsläufig in der Bundespartei – und das möchte ich mir nicht antun.

Wer keine wirkliche Alternative zu den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen anzubieten hat, schraubt lediglich an Symptomen. Nebenbei, wenn tatsächlich eine Mehrheit sich gegen Deine Reformen sträubt, nennt man das "Demokratie". Der Knackpunkt ist halt der, dass es wie bisher auch nicht weitergehen kann – ich schätze, zumindest in diesem Punkt sind wir uns einig. Hoffnung mit Deinen Reformplänen machst Du mir aber auch nicht.

Schau mal vorbei, wenn Du in der Gegend bist. Scheuern werde ich Dir keine, aber mach Dich drauf gefasst, dass ich Dir noch einiges erzähle.

Mit besten Grüßen (auch an Doris)

Eric

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