Der Neoliberalismus oder: Weshalb Schillers Glocke keinen Klöppel hat

© Eric Fricke

Bimm, bimm, bimm
Seit Generationen schon beschäftigt umtriebige Forscher die Frage, weshalb in Friedrich Schillers "Lied von der Glocke" die Herstellung des Klöppels keine Erwähnung findet. Nach ausgiebigen Recherchen ist es mir gelungen, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und ich freue mich, Ihnen, liebe Freunde und Nachbarn, exklusiv die Ergebnisse meiner Forschungsarbeit präsentieren zu können.

Es gab nämlich keinen Klöppel. Und – dieser Punkt mag Sie vielleicht überraschen – die Glocke wurde nie ausgeliefert.

Kurz bevor man mit der Herstellung des Geläuts begann, wurde die Glockengießerei von einem Konzern übernommen. Um den Aktionären eine kleine Freude zu machen, beschloss die Konzernleitung, die Klöppelherstellung dichtzumachen und die betreffenden Mitarbeiter zu entlassen. Von der Rationalisierungsmaßnahme betroffen war aber auch die eigentliche Glockengießerei – die Hälfte der Gesellen wurde ebenfalls entlassen, der Rest musste fürderhin im Akkord arbeiten: "Heute muß die Glocke werden./Frisch Gesellen, seid zur Hand./Von der Stirne heiß/Rinnen muß der Schweiß"

Auch der Umweltschutz wurde – weil profitmindernd - über Bord geworfen. Hemmungslos wurden Wälder gerodet ("Nehmet Holz vom Fichtenstamme") und ohne jede Sicherheitsmaßnahme mit Schwermetallen hantiert ("Kocht des Kupfers Brei/Schnell das Zinn herbei").
Dass es letztlich nicht zur Auslieferung der Glocke kam (Schiller endet mit dem Herausheben der Glocke aus dem Gießgraben), hing indes nicht mit dem fehlenden Klöppel zusammen. Die entlassenen Gesellen waren nämlich aktive Mitglieder der Religionsgemeinschaft, die die Glocke bestellt hatte. Durch die plötzliche hohe Arbeitslosigkeit in der Kirchengemeinde ging das Spendenaufkommen schlagartig gegen Null, sodass der Auftrag storniert werden musste. Daraufhin wurde auch die übrige Belegschaft der Gießerei entlassen und die Produktionsanlage abgebaut und nach Ungarn verlegt.

"Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte/Der Feuerzunder still gehäuft/Das Volk, zerreißend seine Kette/Zur Eigenhilfe schrecklich greift!" Dieses Zitat aus dem "Lied von der Glocke" lassen wir aber lieber unkommentiert.

Als "Nebenprodukt" meiner Recherchen fand ich übrigens heraus, dass die bekannte Kurzform der Glocke nicht – wie bisher angenommen – von PISA-geschädigten Schülern (wegen des unsauberen Reimes) stammt; vielmehr ist sie ebenfalls das Resultat von Rationalisierungsmaßnahmen: "Loch in Erde, Bronze rin, Glocke fertig, bimm, bimm, bimm."

Die Warnung Friedrich Schillers vor den Folgen des Neoliberalismus stammt übrigens aus dem Jahre 1799. Doch wenden wir uns wieder der Gegenwart zu.

Patent auf Sauerstoff?
Der Begriff "Neoliberalismus" ist ja im Grunde blödsinnig, denn mit "liberal" hat die ganze Angelegenheit wenig zu tun, ja, nicht einmal mit der viel beschworenen "Freiheit der Märkte". Welcher Konzern hat schon ein Interesse an einem freien Markt, zu dem jeder gleichen, ungehinderten Zugang hat? Wäre dem so, hätten wir nicht die Tendenz zur Monopolbildung. Zu welch menschenverachtenden Resultaten diese führen kann, zeigt sich beispielhaft am Geschäftsgebaren der Firma Linde. Dort hat man sich die Therapie mit Stickstoffmonoxid (NO) patentieren lassen und gleich noch ein wenig die Preise angepasst. Die Therapie wird vorwiegend bei Neugeborenen mit Problemen der Lungenfunktion angewendet, kommt aber auch bei herzkranken Erwachsenen zum Einsatz. Die Verabreichung von Stickstoffmonoxid hat schon unzähligen Menschen das Leben gerettet, ist zugleich aber praktisch frei von Nebenwirkungen. Zudem war die Behandlung mit 70 Euro am Tag sehr preiswert.

War – solange es noch andere Gashersteller neben Linde gab. Die jedoch wurden von Linde entweder aufgekauft oder durch Verträge gebunden. Jetzt liegen die Kosten für die NO-Therapie bei 3.360 Euro pro Tag. Na, wundern Sie sich immer noch über unser desolates Gesundheitssystem? Kommentar des Sprechers des Bundeskartellamtes Markus Schneider zu Befürchtungen, die Verteuerung der Therapie könne zu einer erhöhten Sterblichkeit vor allem auf Säuglingsstationen führen: "Das Bundeskartellamt ist nicht für Lebensschutz zuständig. Das Bundeskartellamt ist zuständig für Kartellrecht." Nun, als kleiner Trost für Sie, falls Sie einmal mit Herzproblemen eingeliefert werden und der behandelnde Arzt Ihnen mitteilt, dass zwar leider das Budget für eine NO-Therapie überschritten sei, man aber bereits einen Pfarrer verständigt habe: Markus Schneider kann so etwas auch einmal passieren.

Übrigens gestehe ich hiermit öffentlich, dass ich gegen das Linde-Patent verstoße: Ich produziere ebenfalls Stickstoffmonoxid! Da dies auf einen größeren Teil der Menschheit zutreffen dürfte, sehe ich den juristischen Schritten des Unternehmens eher gelassen entgegen. Schwieriger könnte es indes werden, wenn sich Linde dazu entschließt, Sauerstoff patentieren zu lassen: Das Atmen wird dann auf jeden Fall deutlich teurer.

Wenn's um Geld geht...
Nun, sollte eines Tages das Atmen wirklich kostenpflichtig werden (ich muss etwas vorsichtiger mit solchen Gedankengängen sein, sonst bringe ich noch irgendwelche Politiker auf dumme Ideen), können Sie ja immer noch einen Kredit aufnehmen. Aber Vorsicht, Freunde und Nachbarn! Schon jetzt sind in Deutschland über 3 Millionen Haushalte hoffnungslos überschuldet! Rechne ich pro Haushalt drei Personen, sind das summa summarum neun Millionen Betroffene, mithin rund 11,3 Prozent der Bevölkerung. Aber das Schuldenmachen hat Tradition; unsere Politiker machen es uns ja vor. Als ich mit der Recherche zu diesem Artikel begann, hatte die Bundesrepublik Schulden in Höhe von 1.370.741.381.102 Euro. Jetzt, 50 Stunden und 40 Minuten später, steht der Staat – und somit wir alle – mit 1.371.166.886.154 Euro in der Kreide. In den wenigen Minuten, in denen ich über einen Abschluss zu diesem Artikel nachgedacht habe, ist die Summe auf 1.371.167.566.262 Euro gestiegen. Ein Durchschnittsverdiener müsste nur für diese Differenz etwa 20 Jahre lang arbeiten. Und das sollte als Schlusssatz genügen.

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