PISA und die Prügelstrafe

© Eric Fricke

Wie heißt der deutsche Hauptstadt?
Oh, Sie haben den Fehler bestimmt auch schon entdeckt. Korrekt lautet die Frage natürlich: "Wie heißt das deutsche Hauptstadt?", und die Antwort lautet "Pisa".
Nein, ich möchte mich mit Ihnen weder über den letzten Italien-Urlaub noch über die Freudsche Symbolik schiefer Türme unterhalten, sondern über die Bildungsmisere. Und da die Lesekompetenz rapide nachlässt, werde ich auch ganz langsam schreiben. Es geht hier, wohlgemerkt, nicht um Legasthenie – ein Problem, mit dem selbst Albert Einstein gekämpft haben soll. Als Legastheniker kann man sogar Präsident der USA werden! Hm, nun ja, dieses Beispiel war nicht so gut...

Es geht auch nicht um alltägliche Tipp- und Schreibfeler, wie si in der hektik immer wieder mal vorkomen könne. Es geht um die schlichte Frage "Was ist hier eigentlich los?", und dabei ist PISA nur ein Aspekt. Das Programme for international student assessment ist in seiner Abkürzung zum Synonym für Dämlichkeit verkommen; die einzig Dämlichen indes sind jene Presseschreiber, die das englische "programme" mit "Programme" übersetzen – es handelt sich aber um den Singular, sprich: "Programm" (ein Amerikaner würde – wenn wir schon bei den Besserwissereien sind – "program" schreiben). Jenes Programm also, mit dem die internationale Schülerschaft in ihrer Fähigkeit eingeschätzt werden soll, hat in Deutschland bekanntlich Verheerendes ans Licht gebracht. Der als Reaktion um sich greifende Aktionismus war durchaus zu erwarten gewesen.

Oh, nichts gegen die Ganztagsschule zum Beispiel – sie kann für bestimmte Schüler ein großartiges Angebot sein, weshalb ich eine entsprechende Einrichtung in unserer Stadt unbedingt befürworte. Aber sie taugt nicht für alle, was manchem Bildungspolitiker, der mangelnde Qualität durch Quantität kompensieren möchte, nicht so recht eingeht.
Aber schauen wir uns mal um im Lande. Ja, geben wir's ruhig zu, die Lage ist traurig. Als wir einmal Besuch hatten, ging ich Frühstück holen. In der Bäckerei strahlte mich die Auszubildende im Bäckereihandwerk – früher sagte man Lehrmädchen – an und fragte, wieviele Brötchen ich wünschte. Ich überschlug den Pro-Kopf-Verbrauch der hungrigen Meute in meiner Wohnung und meinte: "Ein Dutzend." Die junge Dame klimperte mich daraufhin mit den Wimpern an und fragte: "Wieviele, bitte?" Nun ja, ich spreche oft sehr leise, und daher wiederholte ich etwas lauter: "Ein Dutzend!" Sie klimperte wieder: "Äh, wieviele sind das?" Der Meisterin am anderen Ende der Ladentheke wurde es peinlich und beschloss daher, zu intervenieren. So kam ich doch noch an meine zwölf Brötchen. Glücklicherweise hatte ich nicht noch ein Pfund Brot verlangt, sonst hätte ich am womöglich noch erklären müssen, dass man damit zu meiner Zeit ein halbes Kilo Backwaren bezeichnete.

Aber das Mädel kann sich trösten: Ein Großteil der Redakteure meiner Tageszeitung hätte da wohl auch Probleme gehabt. Beliebt ist dort seit einiger Zeit das Weglassen des Bindestrichs von Koppelwörtern: Aus dem Leser-Service wird der Leser Service, aus dem US-Präsidenten ein US Präsident. Vielleicht ist das ja die Anpassung des Inhalts an die Anzeigen, wo der Bindestrich-Boykott schon länger seine Blüten treibt, vor allem in der Kfz-Branche: "BMW Autohaus" ist ja schon schlimm genug, aber "Mercedes Händler" lässt einem schon das Frühstück hochkommen. Wenn in einem Artikel "ein schmaler Grad" steht, fasse ich mir an den Kopf. Das ist ein alltäglicher Ausdruck; Fehler lasse ich mir in einem Wort wie Lysergsäurediäthylamid (habe ich das jetzt richtig geschrieben?) gefallen. Wenn so ein Redakteur jedoch permanent Steh-Greif statt Stegreif oder Standart anstelle von Standard schreibt, hat er vermutlich das lange Wort aus dem vorherigen Satz geschluckt. Freunde und Nachbarn, wir regen uns auf, weil es unsere Kinder in der Schule nicht auf die Reihe bringen, zwei vernünftige, zusammenhängende Sätze zu schreiben – aber mit solchen Vorbildern nimmt mich das nicht wunder! Wie sollen Schüler ein anständiges Deutsch lernen, wenn ihnen auf dem Weg zur Schule schon Ladenschilder wie "Wilma's Friseur Team" entgegenleuchten oder "Heinz's Kneipe"! Da überkommt einen zuweilen schon das Verlangen, die Schaufensterauslagen mit einem Pflasterstein zu dekorieren. Eine Kneipe namens "Kleck's" habe ich alleine wegen des Namens boykottiert. Ich zitiere aus der Homepage eines bekannten Freiburger Sportstudios:

Wussten Sie schon?
- Dass Fitnesstraining das Risiko eines Herzinkaktes um mindestens 50% senk?
- Dass die Gefahr eines Schlaganfalls vermindert.
- Das es ganz normal ist, dass 60- und 70jährige Menschen ihren Körper im Fitnesscenter fit halten?
- Regelmäßiges Training reduziert das Entstehungsrisiko zahlreicher weitverbreiteten Krankheiten.

Mens sana in corpore sano?!

Falsche und richtige Fehler
Aber auch in der Schule werden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nicht geholfen – da haben die Lehrer nämlich mit der Rechtschreibreform fertig. Ein kurzer Blick auf die Schultafel beim letzten Elternabend zeigte mir in schönster Lehrerschrift auf Anhieb drei Fehler, nämlich Schreibweisen aus der Vor-Reform-Zeit. Das heißt, wenn's denn wenigstens richtige Fehler wären. Aber nein, liberal wie wir sind, ist "daß" eigentlich nicht falsch, sondern ein Zeichen von Vielfalt; falsche Fehler sozusagen, nicht richtig falsch, äh...
Hey, Leute – je weniger Fehler unsere Kinder machen können, desto besser werden sie bei der nächsten PISA-Studie abschneiden! Wir fordern Regelfreiheit für die deutsche Sprache!

In Punkto Allgemeinbildung ist auf diesem Wege natürlich keine Besserung zu erwarten. Ein Bekannter erzählte mir eine Geschichte über Berufsanfänger, die einen Aufsatz schreiben sollten. Einer schrieb ganz nett über die Unabhängigkeit, die ein – wenn auch noch kleines – Einkommen gewährt. Überschrift: "Arbeit macht frei!" Au weia...
Aber zurück zur Rechtschreibreform, deren Grundsatz "alles kann, nichts muss" frappierend an Kontaktanzeigen von Swinger-Clubs erinnert. Für einen Vielschreiber, der auch beruflich ständig in die Tasten haut, ist die steuerliche Absetzung eines Dudens unumgänglich geworden, irgendwie muss man die Kunden ja davon überzeugen, dass die verwendete Schreibweise (auch) korrekt ist.

"Spaghetti" schreibt man jetzt "Spagetti" – ein Italiener würde das vermutlich als "Spatschetti" aussprechen. Dann lieber Pisa, äh, Pizza. Oder schreibt man die jetzt "Pitza"? "Greulich" schreibt man jetzt "gräulich". Nun weiß keiner mehr, ob damit "schrecklich" oder "dunkelweiß" gemeint ist. Und, oh ja, die freiwillig zu setzenden Kommas: Sie versprach(,) ihrer Schwester(,) Briefe zu schicken. Und jetzt erklären Sie mir bitte, was dieser Satz aussagen will. Und danach wenden Sie sich an Ihre Tochter oder Ihren Sohn und halten Sie Ihre Gardinenpredigt wegen des versiebten Diktates: "Du könntest dir mal ein Beispiel nehmen an… äh…". Peinlich, nicht wahr?

Komplizierte Welt
Hey, was ist los? Werden wir allmählich zu einem Volk von Deppen? Nun, das Wissen geht weniger in die Breite, mehr und mehr ist Spezialistentum gefragt. Es war früher einfacher, die Welt, in der wir leben, zu erklären. Früher genügte es zu wissen, dass die Welt eine flache Scheibe auf dem Rücken einer Schildkröte ist, heute benötigt man die Gravitationstheorie, um zu erklären, weshalb die Scheibe nicht von der Schildkröte herunterfällt. Die technischen Entwicklungen und die Vermehrung des Wissens im 20. Jahrhundert machten dem Universalgenie den Garaus. Dazu kamen weitere globale Umwälzungen: Machtblöcke zerfielen, Länder verschwanden, andere entstanden neu, Kriege wurden als politisches Mittel neu entdeckt, panem et circenses lösten altbekannte Werte ab, die Wirtschaft wandelte sich durch die new economy zum Glücksspiel. Die Probleme wurden nicht weniger – der Ressourcenverbrauch steigt nach wie vor, das Licht am Ende des Tunnels ist am Erlöschen, weil das Erdöl fehlt. Aber wir brauchen nicht zu frieren, denn die Erdatmosphäre erwärmt sich und bringt Gletscher zum Schmelzen. Warum das im Einzelnen so ist, wissen wir nicht. Dass neben natürlichen Ursachen der Mensch mit Luftverschmutzung und Treibhausgasen seine Finger im Spiel hat, ist klar, und es ist an der Zeit, wenigstens am selbstgemachten Beitrag zur Klimaveränderung zu arbeiten, bevor wir Amsterdam nur noch anhand von Bojen finden können. Diese gewaltigen Probleme sind nur durch breites Wissen und durch vernetztes Denken – wenn überhaupt – zu lösen, Fachwissen müsste sich stärker überschneiden, damit Spezialisten wieder in die Lage versetzt werden, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Aber just zu diesem Zeitpunkt zieht sich das breite Wissen zurück, schalten die Gehirne auf Dienst nach Vorschrift – es erinnert auf fatale Weise an den Krankheitsverlauf bei Lungenkrebs, wo häufig zu einem recht frühen Zeitpunkt das Gehirn von Metastasen befallen wird. Das kann oft gnädig sein, da der Patient daran sterben kann und nicht ersticken muss. Schöne Aussichten, gell?

Kinder, Kinder...
Als ich 1969 die Klasse 1a der Paul-Hindemith-Grundschule in Freiburg besuchte, waren wir über 40 Schüler in der Klasse. Eine Katastrophe? Mitnichten. Eltern und Lehrer waren darum bemüht, uns den Wert des Lernens, der Bildung, zu vermitteln. Wir waren ja noch Nachkriegsware, da waren die Eltern, die den Krieg noch als Kinder miterlebt hatten, sehr auf Sicherheit bedacht. Materielle Werte waren da nicht so angesagt. Klar, man gönnte sich was, aber die Erfahrung, wie Gegenstände in den Flammen eines zerbombten Hauses vernichtet wurden, prägte. Was man wusste, besaß man, egal, was kam.

Das Motto heute geht eher in die Richtung "wenn du genug Kohle hast, kannst du drauf scheißen, wer der olle Goethe war". Dazu kommt eine nie dagewesene mediale Übersättigung, die den natürlichen Hunger nach Neuem, nach Bildung, unterdrückt. Erwachsene versuchen, cool zu sein; sie teilen ihr Staunen über die Welt ihren Kindern nicht mit. "Frag nicht, warum es funktioniert. Hauptsache, es funktioniert überhaupt!" – und wenn sich Erwachsene schon der Funktionsweise ihrer Umwelt verschließen, wie sollen da Kinder motiviert werden?
Klassenstärken wie in den Sechzigerjahren sind heute undenkbar – eigentlich eine ausgezeichnete Voraussetzung für konzentriertes Lernen, gerade angesichts der zunehmenden Fülle an zu lernendem Stoff. Aber wie ernst nehmen wir denn die Lern-Zeit, wenn sie dennoch verkürzt werden soll? Zwölf statt dreizehn Schuljahre – Hauptsache, man landet früher in der Wirtschaft und ist produktiv. Wissen an sich ist unproduktiv. Ebenso das Erlernen sozialen Verhaltens, das schon damals durch die reformierte Oberstufe einen Dämpfer erhielt. Jeder für sich: "An der Uni habt Ihr's auch nicht besser!"

Freunde und Nachbarn, wir stellten damals aber eine beträchtliche Anzahl, was alleine schon zu einem gewissen Solidaritätsgefühl führte – heute sind Kinder und Jugendliche eine Minderheit! Wo sind sie denn, die Kinderhorden, die durch die Straßen ziehen? "Emil und die Detektive" oder "Die kleinen Strolche" sind heute alleine durch die Unmengen von Kindern ein totaler Anachronismus – wie groß ist denn die Clique Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes? Lassen Sie es sich auf der Zunge zergehen: Ein Viertel der Bevölkerung meiner Heimatstadt ist älter als 65 Jahre! Fragen Sie mal Ihr zuständiges Einwohner-Meldeamt – Sie werden staunen!

Wir alten Säcke – ich fasse den Altersrahmen mal etwas weiter – drängen die Kinder und Jugendlichen alleine durch unsere schiere Anzahl in die Position von Außenseitern. Liegt darin eine Ursache ihrer zunehmenden Aggressivität? Igitt, das ist aber ein unangenehmer Gedanke! Einigen wir uns lieber ganz schnell darauf, die Ursachen bei den üblichen Verdächtigen zu suchen, als da wären: Musik, Computerspiele und die Medien – die aber allesamt nur die von uns geschaffene Realität reflektieren. Mist.

Keine Konsequenzen
Natürlich haben wir uns früher gekloppt. Da gab's auch mal ein blaues Auge. Aber spätestens, wenn einer am Boden lag, war Schluss. Was haben wir mit unseren Kindern gemacht, dass sie heute in einer solchen Situation nochmal zutreten? Was, um Himmels Willen, ist mit Kindern passiert, die mit einer Schusswaffe in die Schule gehen und Mitschüler und Lehrer erschießen?
Wenn wir einen Lehrer nicht mochten, legten wir ihm einen nassen Schwamm auf den Stuhl. Das war ungemein wirksam. Wenn wir einen Mitschüler nicht mochten, ignorierten wir ihn. Aber erschießen? Was, verdammt nochmal, ist da schiefgegangen?

Oh, einen Grund kann ich mir denken. Ende der Siebzigerjahre kifften wir doch alle, geben wir's ruhig zu. Da lief so eine nette Kampagne an: Wenn Du jemanden kennst, der kifft, zeige ihn an. Das wird ihn vor Schlimmerem bewahren! Eine Menge Leute beherzigten das, auch etliche Lehrer – dass harmlose Schüler, die sich mal ein Tütchen reinzogen, auf diese Weise kriminalisiert wurden: Tja, Pech gehabt. Aber so waren Eltern und Lehrer jeglicher Verantwortung enthoben, sollten sich doch Polizei und Jugendrichter um die Früchtchen kümmern! Seit jener Zeit ist es mehr und mehr Usus geworden, scheinbare oder tatsächliche Probleme mit Jugendlichen auf juristischem Wege zu lösen. Wer früher einen Apfel klaute und erwischt wurde, bekam ein paar Backpfeifen und eine Standpauke, daheim passierte einem mit größter Wahrscheinlichkeit dasselbe noch einmal. Und heute? Wehret den Anfängen! Jugendliche Apfeldiebe werden unweigerlich zu Kriminellen! Bewahrt sie davor! Zack, Anzeige! Dass man damit aus einem Apfeldieb erst einen Kriminellen macht – nun ja, Schwamm drüber. Wenn ich nun aber damit rechnen muss, für's Äpfelklauen ohnehin vor den Kadi zu müssen, kann ich ja auch gleich eine ganze Steige einsacken, und wenn mir der Obsthändler blöd kommt, ziehe ich ihm eins über, oder?

Freunde und Nachbarn, man fasst sich an den Kopf – will nun ein Obstverkäufer einem Jugendlichen nicht das Leben versauen und beschränkt sich auf Ohrfeige und Strafpredigt, ist er vermutlich wegen Körperverletzung dran. Denn die alten Herrschaften von dem Apfeldieb setzen garantiert gleich sämtliche juristischen Hebel in Bewegung. Kein Problem, man ist's ja gewohnt, die Kinder rauszuhauen, auch in der Schule. Oh Gott, wo kämen wir hin, wenn die Kinder mal die Konsequenzen dessen, was sie tun, zu spüren bekämen? Früher hatte es im Notfall auch mal gereicht, wenn einen ein Polizist nach Hause gebracht hatte; so etwas kann heute vermutlich nur noch als offizielle Amtshandlung laufen mit Protokoll und allem drum und dran.

Ich weiß noch: Der Vater vom Nachbarsjungen hatte eine Firma. Nach der Schule trieben wir uns oft in der Werkshalle herum und kamen dort auf die Idee, einem der Arbeiter während dessen Abwesenheit die Schublade seiner Werkbank zuzunageln. Der gute Mann kam vom Klo zurück, zerrte an seiner Schublade und wusste natürlich gleich, wer die Schuldigen waren. Wutentbrannt packte er uns am Wickel, knallte jedem eine und ließ uns eine Zange besorgen und die Nägel aus der Werkbank ziehen. Mein Kumpel rannte gleich darauf zu Vattern und beschwerte sich übers Personal. Da hatte er aber schlechte Karten, denn sein alter Herr meinte, wenn der Sohnemann die Belegschaft noch einmal ärgere, käme die nächste Ohrfeige vom Chef persönlich. Also – wir hatten unseren Spaß, dafür trugen wir die Konsequenzen, basta. Heute wären wir wegen Sachbeschädigung angezeigt worden...

He, Augenblick mal – verstehen Sie mich nicht falsch: Es geht hier nicht um die Befürwortung von Prügeln! Eltern sollen nicht autoritär, sondern als Autoritäten auftreten! Es geht schlichtweg darum: Es ist ja sowas von uncool geworden, die Kinder etwas ausbaden zu lassen. Generationenkonflikt? Bewahre! Wir müssen den Kids zeigen, dass wir sie und ihren individuellen Stil respektieren, ohne Wenn und Aber! Wir wollen partout nicht autoritär sein, vergessen aber, dass wir, um das zu erreichen, Autoritäten sein müssen – siehe oben. Provokativ ausgedrückt: Disziplin ist notwendig, damit die Kinder dagegen aufbegehren und am Konflikt reifen können. Nebenbei lernen sie auf diese Weise auch noch etwas Disziplin...

Im Ernst: Was wären wir ohne die Disziplin geworden, gegen die wir immer so aufbegehrt hatten? Kinder und Jugendliche brauchen Reibungspunkte – ohne die Konflikte mit unseren Eltern, ohne die schmerzliche Schaffung eigener Grenzen würden wir heute die Oberkrainer hören anstelle von Metallica. Letztere sind musikalisch allerdings deutlich gehaltvoller.

Positionsbestimmung
Non scholae, sed vitae discimus – nicht für die Schule, für das Leben lernen wir: Wer ist noch in der Lage, das zu vermitteln, ohne die Finger hinter dem Rücken zu kreuzen? Die knallharte Frage: Was bringt Schulwissen und Allgemeinbildung "da draußen" auf dem Arbeitsmarkt? Unter diesem Aspekt könnten Künstler – gleich, ob Musiker, Maler oder Autoren – von vornherein einpacken. Aber wahr ist: Wo Unternehmen ihre Belegschaften zunehmend als Verfügungsmasse betrachten, wo selbst gut Ausgebildete zu Langzeitarbeitslosen werden – wie soll man da Kindern und Heranwachsenden den Sinn von Wissen und Bildung vermitteln? "Wissen ist Macht" – wie soll dieser Satz bestehen neben der Kraft des Geldes, die selbst dem Dümmsten, Ungebildetsten zur Macht verhilft?

Vielleicht ist es an der Zeit, unsere eigenen Positionen einmal zu überprüfen. Die Lösung der Bildungsmisere ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – jeder hat sich darin seiner Verantwortung zu stellen: Eltern, Lehrer, Politiker und Unternehmer. Vielleicht müssen wir allesamt wieder lernen, Vorbilder zu sein – nichts ist verheerender als eine Mischung aus gleichgültigen Eltern, schwachen Lehrern, unehrlichen Politikern und gierigen Konzernbossen.
Überlegen Sie mal: Wo haben wir als Kinder und Jugendliche unsere überschüssigen Kräfte abgebaut? Auf leeren Grundstücken, auf Bäumen, auf der Wiese, wo die leeren, rostigen Stahltanks standen, in denen wir U-Boot spielten. In dem leerstehenden Haus, das zum Abbruch freigegeben war. Am Baggersee, der mit Stacheldraht eingezäunt war – bis auf die Stelle, wo der Draht durchgeschnitten war. In den Maisfeldern am Stadtrand. Wollen Sie's noch detaillierter? Wir hatten eine Baumhütte in geschätzten zweieinhalb Metern Höhe, die wir mittels eines verrosteten Stückes Baustahlmatte erreichten. Zu unseren üblichen Mutproben gehörte das Springen vom Flachdach einer Garage. Heute ist das doch alles nahezu undenkbar. Die leeren Grundstücke sind der baulichen Nachverdichtung zum Opfer gefallen. Kinder, die ein paar Bretter zwischen die Äste eines städtischen Baumes nageln? O Gott, erstens leidet der Baum, und zweitens gibt das versicherungsrechtliche Probleme! Die rostigen Stahltanks sind heute sowieso unvorstellbar, das Betreten des leerstehenden Hauses könnte strafrechtliche Konsequenzen mit sich bringen (wenn unsere Eltern von so was erfuhren, hieß es "lass dich nicht erwischen!"). Das mit dem Baggersee war natürlich Sachbeschädigung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch – zum Glück waren wir noch nicht strafmündig (allerdings sind wir auch nicht erwischt worden). Inzwischen ist doch jeder Jugendstreich schon ein Verbrechen; kommen die Täter nicht umgehend vor Gericht, werden das unweigerlich Kriminelle! Hilfe, schützt uns vor unseren Kindern!

Zurück zur eigenen Verantwortung
Nun, Freunde und Nachbarn, jetzt können wir's ja zugeben: Es war mein Schwiegervater selig gewesen, der als Kind versehentlich die Elztalbahn zum Entgleisen gebracht hatte – die Ermittlungen der Bahnpolizei waren seinerzeit im Sande verlaufen. Und trotzdem ist er ein anständiger Mensch geworden. Zugegeben, das war schon happig. Aber wenn wir nicht damit leben können oder wollen, dass auch mal etwas aus dem Ruder laufen kann, sollten wir unsere Kinder einsperren.

Mal ganz ehrlich: Was machen Sie, wenn Ihr Kind den Elfmeter in Nachbars Panoramafenster donnert? Sagen Sie: "Ich rufe sofort den Anwalt an, schließlich haben wir eine Rechtsschutzversicherung."? Oder sagen Sie: "Als erstes gehst du zum Nachbarn rüber und entschuldigst dich!", obwohl Sie den Nachbarn vielleicht gar nicht besonders mögen?
Überdenken wir unsere gesellschaftlichen Prioritäten. Wie wär's, wenn wir selbst mal wieder Verantwortung übernähmen? Wenn wir mitmischten an unserem Wohnort, sei es im Elternbeirat, einem Verein, einer Bürgerinitiative oder durch Kontakte zu Lokalpolitikern? Herrgott, sind wir bequem geworden! Und so wollen wir Vorbilder sein?

Wenn Sie so in meinem Alter sind, kennen Sie auch noch die Doors. Was für eine Band! Ihr Stück "Five to one" zeugte vom unglaublichen Selbstbewusstsein jener Generation: Wir Jungen sind den Alten im Verhältnis fünf zu eins überlegen! Tja, Kids, und jetzt seid ihr von voll krassen Opas und Omas umzingelt. So ändern sich die Zeiten und die Prioritäten. Die Republik wird altengerecht, da müssen die Minderheiten halt ein wenig zurückstehen. Und jetzt ab mit dir in die Bewahranst... äh, Schule! He, was soll das? Gib mir gefälligst meinen Stock zurück! Au! Aua! Hilfe! POLIZEI!

Kommen wir nochmal auf die Ganztagsschule zurück. Eine tolle Sache für viele Kinder, zum Beispiel, wenn's mit dem individuellen Lerntempo hapert. Da gibt's Möglichkeiten zur Durchführung von Projekten, die andere Schulen rein zeitlich überhaupt nicht stemmen könnten. Da steckt wirklich Potenzial drin. Um so mehr befremdet mich aber, dass es bei Diskussionen oftmals kaum um Inhalte geht. Die Möglichkeit, neue Formen des Unterrichts zu finden? Achselzucken. Die Frage, für welche Kinder die Ganztagsschule in Frage kommt? Betretenes Füßescharren. Nur in einem Punkt werden plötzlich alle wach: Hauptsache, die Kinder sind von der Straße weg, irgendwie betreut, damit die Eltern ungestört arbeiten können. Ach, Leute, Ihr wolltet Verwahranstalten? Vielleicht noch mit Unterbringungsmöglichkeiten während der Ferien? War ich so naiv zu glauben, es ginge hier nur um Bildung, um die Zukunft unserer Kinder? Freunde und Nachbarn, auch wenn ich mich wiederhole: Überdenken wir, was wir für unsere Kinder wollen, überdenken wir die Prioritäten. Wollen wir das Beste für uns – oder unsere Kinder? Freilich, oft müssen beide Elternteile arbeiten, um finanziell einigermaßen zurechtzukommen, das wollen wir nicht übersehen. Traurig genug, dass heutzutage ein Gehalt kaum noch ausreicht, um eine Familie zu ernähren.

Vor allem aber: Schieben wir doch die Verantwortlichkeiten nicht immer anderen zu! Wir stellen Zehnjährigen einen eigenen Fernseher hin, stellen fest, dass Schmuddelfilme gesendet werden und schreien nach Zensur! Wir bauen uns vor Lehrern und Erziehern auf: Wir haben ein Problem mit unserem Kind, tun Sie was dagegen! Unsere Kinder leiden an Bewegungsarmut, haben teilweise ernsthafte Koordinierungsprobleme bis hin zu Schwierigkeiten, rückwärts zu laufen – ja, haben wir denn ein Interesse daran, dass sie sich austoben? Oder ist das dann wieder zu laut? Überlassen wir die Verantwortung doch den Vereinen, bevor die Kids zum Blechdosenkicken auf den leeren Parkplatz gehen! Montags Turnen, dienstags Reitverein, mittwochs Klavierunterricht, donnerstags Schwimmverein, freitags Schachclub, statt dass man die Kinder ein oder zwei Dinge richtig machen lässt. Davon haben weder die Kinder noch die Vereine etwas.
Aktionismus statt Erziehung, Verantwortungslosigkeit, schwindende Freiräume – dagegen hilft auch die Ganztagsschule nicht. Auch wenn es noch so bequem wäre.

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