Eine Ohrfeige für den Kanzler

© Eric Fricke

Abstimmung per Handzeichen
Es ist, Freunde und Nachbarn, in jüngster Zeit Usus geworden, über Politiker per Handzeichen abzustimmen – Gerhard Schröder und Guido Westerwelle haben's bereits zu spüren bekommen. Die Tradition der Ohrfeige reicht allerdings (mindestens) bis ins Jahr 1968 zurück, als Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger eins hinter die Löffel gegeben hatte. Es gibt indes Unterschiede zwischen den Ohrfeigen damals und heute. Kiesinger bekam aus sehr persönlichen, in seiner Vergangenheit liegenden Gründen, eine gescheuert (auch wenn andere Repräsentanten des 3. Reiches gleichermaßen damit gemeint waren).

Beate Klarsfeld erklärte das so: "Ich habe Bundeskanzler Kiesinger geohrfeigt, weil ich der öffentlichen Meinung in der ganzen Welt beweisen wollte, daß ein Teil des deutschen Volkes, ganz besonders aber seine Jugend, sich dagegen auflehnt, daß ein Nazi an der Spitze der Bundesregierung steht." Es war, wie sie weiter ausführte, eine Ohrfeige, die Deutschland brauchte: "Es brauchte sie, damit die Schuld bewiesen wird der Millionen, die grausam, gierig, feige und blind folgend geglaubt haben, dass sie uns auf ewig den echten Sinn des Wortes 'Ehre des deutschen Volkes' verbergen könnten. Es brauchte sie, um zu rächen die Toten von Stalingrad, Russen, die ihr Vaterland verteidigten und die deutsche Jugend, die man zu täuschen versucht hatte und deren Tränen zu Eis erstarrten, wenn sie an die ihrigen dachten, die für sie verloren waren. Es brauchte sie für den Rauch, der aus den Kaminen der Todesfabriken in Auschwitz stieg und dessen Geruch den Deutschen anhaften wird bis zu dem Tag, an dem alle Deutschen die Leiden derer, die hinter Stacheldraht saßen, mitempfinden werden. Es brauchte sie, damit all die Stätten in der Welt gereinigt werden, die von der Hakenkreuzfahne besudelt waren, als Erinnerung an alle Manulisk Lesos, die sie heruntergerissen haben. Es brauchte sie, um die letzten Gedanken von Hans und Sophie Scholl zu ehren, als sie ihre Hälse auf den Hauklotz legten und darauf warteten, daß der Kopf unseres wahren Deutschlands in den Müll rollte. Es brauchte sie, um das jüdische, russische, polnische Volk mit den Deutschen auszusöhnen, denn diese Völker können nur dann in Fraternität zusammenleben, wenn sie gemeinsam den Kampf gegen den Faschismus aufnehmen wollen. Es brauchte sie für ein Deutschland, befreit vom Drang nach Vorherrschaft. Heute sind es drei oder zwei, eines Tages aber, wenn wir den Sieg davontragen sollten, so wird es ein Deutschland werden im Sozialismus und Frieden, das die anderen Völker respektiert.
Und es brauchte sie von der Hand einer Frau. Denn man achtete nicht darauf, ob es Frauen waren, als man sie in die Verbrennungsanlagen trieb, als sie unter den Bombenangriffen starben, als sie unter der Folter aufschrien. Das ist der Grund, der mich dazu getrieben hat, im Namen von 50 Millionen Toten und der künftigen Generationen, in das abstoßende Gesicht der zehn Millionen Nazis zu schlagen, damit sie alle die gleiche Scham empfinden und sich die gleiche Röte der Ohrfeige auf ihren Wangen abzeichnet. Die Ohrfeige galt allen Kiesingers und Thaddens, die Demokratie sagen, wenn sie Notstandsdiktatur meinen, die Frieden sagen, wenn sie mehr Waffen kaufen, die Versöhnung sagen, aber die Grenzen in Europa nicht anerkennen wollen."

Das war eine Begründung, keine Rechtfertigung. Beate Klarsfeld erwähnte übrigens mit keinem Wort, dass sie 1967 ihre Stelle beim Deutsch-Französischen Jugendwerk verloren hatte, weil sie kritische Artikel über Kiesingers führende Rolle in der Propaganda-Abteilung des Auswärtigen Amtes während der Nazi-Zeit verfasst hatte – in einer französischen Zeitung übrigens; die deutsche Presse mied die Klarsfeld-Artikel wie der Teufel das Weihwasser.
Was sollte man also heute für einen Grund haben, Gerhard Schröder eine runterzuhauen? Fragen wir mal anders: Warum haue ich dem Waldkircher Bürgermeister (ebenfalls SPD) keine runter?

Nun, erstens ist Richard Leibinger ungefähr einen Kopf größer als ich. Zweitens, wenn er über "gewisse Leserbriefschreiber" frotzelt und dabei ganz beiläufig in meine Richtung schaut, weiß ich immerhin, dass die Kritik angekommen ist. Da ist auch nichts Persönliches dabei, weder in meiner Kritik noch in seinem Kommentar. Das ist halt das Schöne am Kleinstadtleben, dass man mit den Politikern notfalls auch mal in der Kneipe diskutieren kann. Allerdings haben sich einige CDU-Stadträte im Vergleich zu mir als etwas trinkfester herausgestellt; vielleicht sollte man bei der SPD mehr üben...
Nun, Freunde und Nachbarn, wie oft hat der durchschnittliche Bürger aber Gelegenheit, Gerhard Schröder beim gepflegten Pils seine Meinung zu sagen? Taugt die Ohrfeige als Alternative?

Panzerfaust statt Handschlag?
Eine Ohrfeige ist grundsätzlich kein taugliches politisches Ausdrucksmittel – die einzige mir bekannte Ausnahme war und ist der Fall Kiesinger. Dabei war sie noch eine milde Strafe für jemanden, der in hoher Position an den Verbrechen des Nazi-Regimes beteiligt war (und insofern war sie eben nicht nur symbolisch). Dennoch sollte man die Ohrfeige, die Schröder empfing, ernst nehmen. Man kann sie nicht einfach abtun als die Tat eines Durchgeknallten. Auch Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf bezeichnete Ohrfeiger Jens Ammoser bekanntlich als "offensichtlich gestört". Und dass ausgerechnet die Bild-Zeitung "Ein Schlag gegen die Demokratie" titelte, ist ohnehin reichlich unverschämt – aber vielleicht wollte man ja beim Kanzler gut Wetter machen. Interessanterweise gipfelte die Aufregung um die Ohrfeige in dem Satz "Er [Ammoser] hätte ja auch ein Messer benutzen können". Freilich. Hätte er. Er hätte ja auch eine Panzerfaust benutzen, oder, wenn wir schon einmal dabei sind, sich einen Sprengstoffgürtel um den Bauch binden können. Hat er aber nicht. Der Terrorismus liefert halt in so einem Fall gute Begründungen – und ruckzuck werden Leute nicht nach dem be- (und möglicherweise ver-)urteilt, was sie getan haben, sondern danach, was sie hätten tun können. Auch das ist übrigens ein "Erfolg" des Terrorismus.

Jens Ammosers Werdegang ist jedenfalls nicht untypisch für die Republik. 1995 wurde er arbeitslos, machte mehrere Umschulungen und bewarb sich wieder und wieder um eine Stelle – erfolglos. Wie eben Millionen andere Arbeitslose auch. Und schon ist abzusehen, dass sich deren Situation eher noch verschlechtern wird – wenn ab Januar 2005 im Zuge neuer Gesetze zigtausende Arbeitslose durch die immer weiter werdenden Maschen des sozialen Netzes fallen werden.

Drohende Massenverarmung, Perspektivlosigkeit, Verschlechterung des Gesundheitswesens, das Rentenproblem auf der einen Seite, auf der anderen Seite Konzerne, die sich gewissenlos bereichern, mit Steuerschlupflöchern Milliarden sparen, Menschen aus Profitgier entlassen, nach dem Motto "Geiz ist Geil" in Billiglohnländern produzieren und hierzulande eine ökonomische Wüste zurücklassen – daran muss doch jemand Schuld sein! Dass die Massenarbeitslosigkeit erst unter der CDU in solche Höhen stieg, spielt in diesem Moment keine Rolle: Es muss eine Symbolfigur her, die abgestraft wird. Die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld austeilte, war nicht nur symbolisch – also für alle Vertreter des Nazi-Regimes –, sondern auch eine persönliche "Bestrafung" eines Täters. Auf Schröder trifft das nur bedingt zu, da viele Ursachen der heutigen Misere ihren Ursprung in der Zeit der Unionsregierung haben. Dennoch scheint Schröder fleißig an der Politik der Umverteilung seines Vorgängers Kohl festzuhalten – offensichtlich unter dem massiven Druck der Wirtschaft; jüngstes Beispiel sind die Querelen um den Dieselrußfilter, den die deutsche Autoindustrie schlicht verpennt hat. Dass nicht die Umwelt, sondern allein der Profit zählt, zeigt sich daran, dass Rußfilter, wie sie von Peugeot und Citroën eingeführt wurden, nicht steuerlich gefördert werden sollen, um die deutschen Autobauer (und ihren Dornröschenschlaf) zu schützen.

Geste der Hilflosigkeit
Welche Möglichkeit hat denn der einfache Bürger, seine Ängste und Sorgen gegenüber den Regierenden zu artikulieren? Zunehmend hat man das Gefühl, das Reichstagsgebäude stünde auf einem fernen Planeten. Was, wenn man nicht das Glück hat, einen Bundestagsabgeordneten persönlich zu kennen, um ihm dann zum Beispiel ein sorgsam gebundenes Exemplar von "Zur (P)Lage der Nation" zu überreichen ("Ich werd's auf dem Weg nach Berlin lesen!")? Wie ich in dieser Artikelserie erwähnte, befürchte ich eine zunehmende Radikalisierung in diesem Lande. Die Kanzlerohrfeige mag durchaus ein Indiz dafür sein – und wehe, der Nächste begnügt sich nicht mit Backpfeifen, sondern hat tatsächlich eine Waffe dabei. Auch das gehört wiederum zu den Gründen, weshalb Politiker immer seltener den Kontakt zur Bevölkerung suchen und sich dabei immer stärker von ihr entfremden – ein Teufelskreis.

Mal ehrlich, lieber Gerhard: Wie hätte die Alternative ausgesehen? Angenommen, Jens Ammoser hätte die Gelegenheit gehabt, dir ein Viertelstündchen lang sein Leid zu klagen (länger sicher nicht, hachgott, die Termine halt, immer im Stress). Und dann? Zum Schluss hättest du dein volles Verständnis geäußert und Ammoser versichert, die Regierung arbeite daran. Du hättest ihm auf die Schulter geklopft, die Hand gedrückt und ihm dabei aufmunternd, mit einem Lächeln, in die Augen geblickt; der "Du-kannst-mir-vertrauen"-Blick, den du sicher stundenlang vor dem Spiegel geübt hast, für irgendwas muss ja so ein Medienberater gut sein. Inzwischen wüsstest du vermutlich nicht einmal mehr, dass du je einem Menschen namens Ammoser begegnet bist...
Galt die Ohrfeige vielleicht der Politik (und nicht nur der deutschen) als solcher? Darüber kann man wohl nur spekulieren. Wäre sie dann berechtigt gewesen?

Wenn wir sehen, wohin wir, global gesehen, treiben und gleichzeitig fassungslos sehen, wie die Politik zum Werkzeug der Wirtschaft verkommt, dann war sie es. Wenn wir sehen, auf welche Katastrophen wir in den nächsten Jahrzehnten zusteuern – spätestens unsere Kinder werden sie noch erleben! – und die Politik steuert nicht gegen, sondern verschärft die Probleme noch durch Kriege, durch das Tolerieren, gar Fördern von Umweltzerstörung, durch das Ignorieren alternativer Energiequellen, um die Mineralöl- und Atomindustrie nicht zu vergrätzen, dann war sie es. Die Politik bahnt den Konzernen und den Kriegstreibern (die teilweise absolut identisch sind) den Weg – in unser Desaster. Und so gesehen, könnte die Ohrfeige mehr als berechtigt gewesen sein.
Bewegen wird sie indes nichts – auch ein Bundeskanzler ist heute nur noch ein Rad im globalen Getriebe, wenn auch sicher kein kleines.

Ein Blick zurück ins Jahr 1968: Beate Klarsfeld wurde zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt, für Kiesinger markierte der Schlag den Anfang vom Ende – 1969 kam der Regierungswechsel. Der böte heute aber beileibe keine Perspektive...

Ammosers Tat war eine Geste der Hilflosigkeit – zu verlieren hatte er offenbar nichts mehr. Ein unangenehmer Gedanke angesichts über viereinhalb Millionen Arbeitsloser... und schon von daher kein Grund, die Ohrfeige einfach abzutun.

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