Die Privatisierung der Bundesrepublik

 

© Eric Fricke

Wir sind Kanzlerin! Jawoll, und jetzt kann endlich einmal eine Frau zeigen, dass sie in der Politik das Gleiche kann wie ein Mann! Nun, wer würde das denn ernsthaft in Zweifel ziehen wollen? Man fragt sich allenfalls, weshalb jetzt erst; ich denke da an Golda Meïr, Maggie Thatcher, Indira Gandhi oder Sonja Gandhi. Da war das Ausland schneller, auch wenn ich manche der Damen eher mit Argwohn betrachte. Während nun darüber gegrübelt wird, ob es jetzt "Frau Bundeskanzler" oder "Frau Bundeskanzlerin" heißt (der Schröder war da unkomplizierter: "Sie können auch Gerhard zu mir sagen"), stelle ich mir eher die Frage: Wieso ausgerechnet Angela Merkel? Gibt es denn keine fähigen Politikerinnen in Deutschland? Und wieso eigentlich eine CDU-Kanzlerin? Wenn wir den politischen Standort der SPD mal etwas großzügiger und im traditionellen Sinne betrachten, hatte eine Mehrheit von 51 Prozent links gewählt, während Union und FDP gerade auf 45 Prozent kamen (da macht es nicht einmal einen Unterschied, dass die SPD erst nach rund 60 Jahren gemerkt hat, dass CDU und CSU unterschiedliche Parteien sind). Aber nun ja, die SPD meinte, links sei pfui. Diese Kommunisten um Oskar Lafontaine, dem Verräter, wollen hier die Revolution ausrufen, und dann bekommen wir die Internationale als Nationalhymne: "Brüht auf, Verdammte dieser Erde" oder so. Jetzt kann man denen nicht mal mehr sagen, sie sollen nach Drüben gehen, weil, da kommt ja bekanntlich unsere Kanzlerin her.

Immerhin hat Angela Merkel auch Revolutionäres vor in diesem unserem Lande: Es muss weniger Arbeitslose geben, die Staatsverschuldung müsse verringert werden und die Leute müssten wieder "richtiges Geld" verdienen. Dass da außer ihr noch keiner draufgekommen ist! Da wird es die Opposition echt schwer haben, denn wer wollte dagegen meckern?

Natürlich werden wir unter Kanzlerin Merkel nicht mehr verdienen, dafür dürfen wir dann länger arbeiten, und so gleicht sich das wieder aus. Oder habe ich da etwas falsch verstanden? Nun, es könnte wohl eher daraus hinauslaufen, dass wir alle weniger haben werden, wenn einiges von dem, was derzeit als Drohung in der Luft hängt, verwirklicht wird. Zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung. Angeblich will sie keiner, aber "Wirtschaftsexperten" raten zu einem Satz von 20 Prozent. Selbst wenn "nur" 18 Prozent dabei herauskommen sollten, bedeutet dies für einen Vier-Personen-Haushalt eine jährliche Belastung von rund 1100 Euro. Dann die PKW-Maut, die ja auch keiner will, von der man aber schon weiß, dass sie bei hundert Euro im Jahr liegen wird. Die seit langem anvisierte Streichung der Pendlerpauschale dürfte dann im Durchschnitt ein weiteres Loch von rund 500 Euro in die privaten Haushaltskassen reißen. Kalkuliert man hierzu noch die enorm steigenden Energiepreise ein, fehlt einer durchschnittlichen Familie am Jahresende locker ein ganzer Monatslohn. Da geht es dann nicht mehr darum, den Lebensstandard zu steigern, da werden viele damit zu kämpfen haben, nicht abzurutschen.

Ach ja, PKW-Maut – der Aufschrei der Politiker-Kaste war ja nicht zu überhören: "NIE im Leben! Mit uns nicht!" Das würde so schon kein Mensch glauben, wenn man aber noch in Betracht zieht, dass TollCollect unter anderem deshalb so schwer in die Gänge kam, weil das System für erheblich größere Kapazitäten als den LKW-Verkehr ausgelegt werden musste, wird man schon nachdenklich.
Aber gut, der Staat hat kein Geld, und man kann ja schließlich nicht verlangen, dass zum Beispiel Konzerne an ihren Milliardengewinnen auch noch das Finanzamt beteiligen! Nebenbei, man ist als Laie immer wieder erstaunt, wie das Börsengeschäft funktioniert: Apple, ein durch und durch gesundes Unternehmen und Weltmarktführer im Online-Musikgeschäft, musste bei den Aktienkursen Einbrüche von über zehn Prozent hinnehmen. Was ist da passiert? Miese gemacht? Im Gegenteil, Gewinn und Umsatz konnten gegenüber dem vorigen Quartal noch einmal gewaltig gesteigert werden. Der Gewinn lag sogar erheblich über den Erwartungen, lediglich der Umsatz lag geringfügig unter den Prognosen. Und deswegen rauschen die Aktien nach unten.

Aber zurück zum Staat: Der sollte nach allgemeinem Dafürhalten alles privatisieren, auch die Autobahnen, dann kommt wieder richtig Geld rein. Und Konkurrenz belebt den Markt, man schaue sich nur einmal die Vielzahl der Kommunikationsanbieter an! Ist es nicht eine Freude, heute so billig wie noch nie telefonieren zu dürfen?

Nun, ich erinnere mich, wie ich als Jugendlicher über Stunden hinweg das elterliche Telefon blockierte. Diese pubertäre Eigenart (am anderen Ende der Leitung befand sich meistens ein weibliches Wesen) kostete meine Eltern selbst nach einem vierstündigen Telefonmarathon gerade 21 Pfennige. Als irgendwann ein Zeittakt eingeführt wurde, besaß ich glücklicherweise schon ein Mofa und konnte somit die betreffenden Damen persönlich aufsuchen. Blickt eigentlich noch jemand durch bei dem heutigen Tarifdschungel? Bevor ich kostbare Lebenszeit damit verschwende, bei einem Dutzend Anbieter den günstigsten von dreihundert Tarifen herauszufinden, telefoniere ich lieber weniger und gehe mit meinen Freunden ein Bier trinken.

Dass der Staat sich in manchen Bereichen lange Zeit die Oberhoheit vorbehalten hatte, war ja durchaus nicht unbegründet (wobei man sich natürlich fragen konnte, weshalb jeder staatliche Hilfsarbeiterposten mit einer Verbeamtung – auch so ein schönes Wort – einherging): Es ging darum, die Grundlagen von Verkehr und Kommunikation auch in Kriegs- und Krisenzeiten (oder auch bei Naturkatastrophen) aufrechtzuerhalten. Private Autobahnen hätte man nur schwer zu Reserveflugplätzen machen können, über private Eisenbahnunternehmen kann man nicht kurzerhand verfügen, eine Post als verlängerter Arm des Staates muss auch im Krieg Briefe austragen. Die Grundversorgung des Bürgers ist also auch in schwierigen Zeiten gesichert, zumal Beamte bekanntlich nicht streiken dürfen.
Dass in Staatsunternehmen ein Nachteil liegen kann, lehrt uns die Geschichte: Man stelle sich vor, das Kommunikations- und Verkehrswesen im Dritten Reich wäre in privater Hand, womöglich im Besitze ausländischer Unternehmen gewesen – die wären in der Lage gewesen, das Land lahmzulegen, ohne eine einzige Bombe abzuwerfen. So existierte aber selbst noch im Frühjahr 1945 in der Trümmerwüste eine zumindest rudimentäre Postzustellung, funktionierten erstaunlich viele Telefone, und auf den Gleisen, die die Tieffliegerangriffe überstanden hatten, fuhren Züge.

Kommen wir aber noch einmal auf die Autobahnen zurück. In Frankreich funktioniert das doch auch prächtig, oder? Haben die nicht hervorragend ausgestattete Autobahnen? Selbst der mickrigste Parkplatz verfügt über eine Toilette, während man hierzulande häufig genug mit einem Gebüsch vorlieb nehmen muss, das wächst und gedeiht, weil es permanent gedüngt wird. Allerdings halte ich es für ein Gerücht, dass wir in Deutschland dieses Niveau für hundert Euro im Jahr bekommen können. Wer unser gallisches Nachbarland durchquert, zahlt ungefähr fünf Euro pro hundert Kilometer. Allerdings: Gerade die eigentlich lukrativen Autobahnen rund um die Ballungszentren kosten keine Gebühr, um die Berufspendler nicht über dieselbe zu strapazieren. Das klappt in Frankreich deswegen, weil es dort viel Landschaft, aber wenige Ballungszentren gibt. Auch die grenznahen Autobahnstrecken sind nicht mautpflichtig. Zudem werden französische Autofahrer längst nicht so stark belastet wie in Deutschland; die KFZ-Steuer wird auf den Treibstoffpreis umgelegt – und dennoch ist der Sprit billiger als bei uns.

Was macht eigentlich der Staat, wenn er sein ganzes Tafelsilber verscherbelt hat? Man könnte die Bundesrepublik natürlich an ein Firmenkonsortium verkaufen. Gewiefte Unternehmensberater werden sicher schnell feststellen, dass die Bevölkerung die Hauptursache für die fehlenden Gewinne ist. Vermutlich wird das Land dann weitestgehend automatisiert und die Bevölkerung entlassen.

Es ist sicher unbestritten, dass der Staat kein Monopol auf Kommunikation und Verkehr haben darf, da die Möglichkeiten des Missbrauchs durchaus nicht rein akademischer Natur sind. Immerhin darf die heutige Bundesrepublik wenigstens mit einem gewissen Widerstand beispielsweise bei Internetfirmen rechnen, wenn es um die Installation von Abhörmaßnahmen geht – wenngleich es den betreffenden Unternehmen weniger um Datenschutz und Bürgerrechte als vielmehr um Gewinneinbußen geht. Zieht sich der Staat jedoch vollständig selbst aus der elementarsten Grundversorgung zurück, darf er nicht erwarten, dass er in Krisenzeiten noch funktioniert.

Theoretisch ließe sich auch die Bundeswehr privatisieren. Damit käme man in eine Situation wie die USA: Im Irak – wie auch in anderen Krisengebieten – übernehmen mehr und mehr Privatfirmen militärische Aufgaben. Um rentabel zu sein, sind diese Unternehmen, wie zum Beispiel Blackwater, auf Kriege und Krisen angewiesen: "Sehr geehrte Vorstandsmitglieder, da die Aktienkurse gesunken sind, ist es notwendig, irgendwo ein paar Bomben abzuwerfen." Sicher kein Problem, wenn genügend Politiker mit im Aufsichtsrat sitzen.

Aber nun ja, wie war das gleich wieder? – "Sozial ist, was Arbeit schafft." Na bitte: social bombing. Den Begriff sollte ich mir eigentlich gleich schützen lassen...

17_10_05

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