Wie man Meinung macht

© Eric Fricke

Es ist schon faszinierend zu sehen, wie die Presse Meinung macht. Jüngst erschienen diverse Artikel, in denen gefeiert wurde, dass es den Geländewagen steuerlich an den Kragen geht. Endlich falle das Steuerprivileg für diese überflüssigen Luxusschlitten, hieß es da. Keine Besteuerung mehr zum LKW-Tarif bei Geländewagen über 2,8 Tonnen, aber, haha, den Besitzern tue das ja nicht weh; wer sich einen Edelschlitten mit 25 Litern Verbrauch leisten könne, solle auch ordentlich blechen. Wer mag da nicht Beifall spenden? Und wenn dann noch ein zulassungsrechtlich völlig unterbelichteter Redakteur der Badischen Zeitung schreibt, Geländewagen kämen nur über 2,8 Tonnen, weil man sie extra schwer baue und mit allerlei Zierrat wie Frontbügeln belaste, freut sich der Stammtisch. Nun, ich bin durchaus auch der Meinung, dass ein ausgewachsener Geländewagen für 95 Prozent der Besitzer völlig sinnlos ist, aber irgendwo sollte man doch bei der Wahrheit bleiben. Theoretisch könnte man ein Auto aus einer Titanlegierung bauen, das lediglich ein paar hundert Kilo wiegt, das aber trotzdem über 2,8 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht kommt – nämlich, wenn es eine entsprechende Zuladungskapazität hat. Ein Auto künstlich zu beschweren, wäre so ziemlich das Dämlichste, was man machen könnte. Wobei ich mich schon frage, was die in Ingolstadt gemacht haben, dass der Audi A8 rund 300 Kilo mehr wiegt als ein großer Lieferwagen der Dreieinhalb-Tonnen-Klasse. Aber das nur am Rande.

Ich habe dieser Steuergeschichte von vornherein nicht getraut, und siehe da – jetzt kommt tatsächlich die ganze Wahrheit ans Tageslicht: Die LKW-Besteuerung soll nicht nur für ein paar tausend Luxus-Geländewagen, sondern auch für alle Nutzfahrzeuge gestrichen werden, die als PKW zugelassen sind. Und das trifft nicht nur ein paar Leute, die dicke Geländeschlitten fahren, sondern vor allem die Großfamilie, den Bäckermeister um die Ecke, die Pfadfinder mit ihrem alten VW-Bus, das Taxiunternehmen, den Kleintransportunternehmer, den Fußballverein, den Kurierdienst, den Autovermieter. Für solche als LKW besteuerten Fahrzeuge, die ungefähr ein Drittel des Verbrauchs eines großen Geländewagens haben, gab es übrigens in der Vergangenheit auch keine Steuerbefreiung für bestimmte Schadstoffklassen. Einige der Besitzer werden die höheren Kosten auf die Preise umlegen, dann hat jeder was davon. Der Rest darf sich ärgern. Beim Finanzamt Emmendingen ärgert man sich auch: Die bisherige Regelung sei schließlich problemlos gewesen. Mehr wusste man dort auch nicht; es könne allenfalls sein, so wurde gemutmaßt, dass für Fahrzeuge, die ab Werk über 2,8 Tonnen lägen, also nicht nachträglich aufgelastet seien (was übrigens kein technischer, sondern ein bürokratischer Vorgang ist), die bisherige Regelung beibehalten werde. Aber das sei eher Spekulation.

Diesen Teil der Geschichte hat man in den Zeitungen (mit Ausnahme einer kleinen Notiz in der ADAC-Motorwelt) weitgehend der Öffentlichkeit vorenthalten. So ist es kein Wunder, dass mangels Information diese Steuererhöhung nicht auf Ablehnung, sondern gar auf Zustimmung stößt. Jedenfalls, bis der Bäcker um die Ecke seine Preise erhöht. Derzeit sind in Deutschland rund 1,8 Millionen Transporter mit einer Nutzlast bis 1,5 Tonnen zugelassen. Das lohnt sich natürlich eher als ein paar Geländewagen.

Nun, Freunde und Nachbarn, ähnlich läuft die Berichterstattung auch ab, wenn es um Hartz IV geht. Hartz IV ist eine tolle Sache. Der Staat spart Geld, die Arbeitslosen werden weniger. Und sei es auch nur deshalb, weil sich, wie unlängst geschehen, ein Arbeitsloser mit seinem Auto vor der Agentur für Arbeit in Bietigheim-Bissingen in die Luft sprengte. Nun, darüber berichten die Zeitungen allenfalls in diesen kleinen versteckten Spalten, die man eher durch Zufall findet. Worüber wir täglich lesen: Was für eine hervorragende Sache Hartz IV doch ist! Wer stänkert, gefährdet das Wirtschaftswachstum! Und wenn der Kanzler und die Medien schon so hartz, Verzeihung, harsch auf die Kritiker losgehen, reiben sich die Bosse natürlich die Hände. Täglich erscheinen neue Umfragemeldungen, die bestätigen, dass sich die Bürger fast schon auf Hartz IV freuen. Der Arbeitskampf bei Opel wurde einhellig als "wilder Streik" diffamiert, Kommentatoren machen sich regelmäßig über Protestaktionen lustig. Alles wird gut, und die klugen, informierten Bürger wissen das auch; die Meckerer sind eine verschwindend geringe Minderheit, Altlinke, die sonst nichts zu meckern haben oder Leute, die sich darüber ärgern, dass man ihnen die soziale Hängematte unterm Hintern wegziehen will. Die Beliebtheit der SPD steigt demzufolge auch täglich, und als guter Deutscher sollte man eigentlich einen Aufkleber auf der Stoßstange haben: WIR LIEBEN UNSEREN KANZLER!

Das gibt das nächste Stichwort: Sozialhilfeempfänger dürfen künftig ein Auto besitzen! Darf man denn sowas überhaupt noch als Armut bezeichnen? Wenn die armen Schweine da unten in Afrika ein Auto hätten, würden sie es gegen Fressalien eintauschen! Und hieß es nicht sogar in einer Empfehlung an Hartz IV-Kandidaten, sie sollten sich noch rechtzeitig vor Ablauf des bisherigen Arbeitslosengeldes ein neues Auto kaufen, falls noch Kohle über dem Freibetrag da wäre? Im Grunde ja kein dummer Gedanke, wenn die alte Kiste ohnehin bald das Besteck abgibt. Dann hat man wieder ein zuverlässiges Auto, die Garantie schützt vor Reparaturkosten und steuerlich ist es vielleicht auch günstiger. Leider ist das keine gute Idee, sondern ein gewaltiger Griff ins Klo. Ein Auto hat nämlich "angemessen" zu sein. Sonst käme ein Arbeitsloser womöglich auf die Idee, beim nächsten Mercedes-Händler "so einen 600er, wie ihn der Schrempp hatte, bevor er geklaut wurde" zu ordern. Was ein "angemessenes" Auto ist, musste ich zunächst einmal im Internet recherchieren, denn das ist doch ein reichlich schwammiger Begriff. Ergebnis: Ein "angemessenes" Auto im Sinne von Hartz IV hat einen Wert von maximal 5.000 Euro. Was darüber liegt, wird bei den Leistungen angerechnet. Das heißt: Wenn Sie als Besitzer eines mäßig ausgestatteten Opel Astra des Baujahres 1997 ab Januar 2005 unter die Hartz IV-Regelung fallen, haben Sie ein Auto, dessen Wert rund 10 Prozent über dieser Grenze liegt. Wieviel Ihr Auto konkret wert ist, wird aber nicht nach der Schwacke-Liste oder gar von einem unabhängigen Gutachter festgelegt, das darf der für Sie zuständige Sachbearbeiter der Agentur für Arbeit auf eigene Faust ermitteln, zum Beispiel anhand von Tageszeitungsanzeigen oder im Internet: "Ich habe zwar keine Ahnung von Autos, aber das da sieht doch so ähnlich aus wie Ihres und kostet 10.000 Euro." Im Grunde kann man da nur jedem, dessen Arbeitsplatz möglicherweise gefährdet ist, davon abraten, sich einen Neuwagen oder auch nur einen hochwertigen Gebrauchten zu kaufen, selbst wenn er das Geld bar unterm Kopfkissen liegen hat.

Unterm Kopfkissen liegt das Geld ohnehin besser als auf der Bank. Ab 1. April 2005 existiert in Deutschland praktisch kein Bankgeheimnis mehr. Haben Sie das nicht in der Zeitung gelesen? Nun, ich auch nicht. Jedenfalls nicht in dieser Form. In den Medien heißt es, dass das neue Gesetz eine Maßnahme gegen Geldwäsche und – Tusch! – gegen den Terrorismus ist. Ein Gesetz gegen den Terrorismus? Klar, sind wir alle dafür! Und möglichst schnell verabschieden, bevor die uns alle in die Luft jagen! Um Himmels Willen, vielleicht hat ja so ein Bombenleger schon ein Konto bei meiner Volksbank-Zweigstelle?

Nun, Freunde und Nachbarn, mit der Begründung "Terrorismus" lässt sich alles plattmachen. Menschenrechte, Demokratie, Unverletzlichkeit der Wohnung, Privatsphäre – warum also nicht gleich noch das Bankgeheimnis? Es mag ja sein, dass ein paar besonders dämliche Geldwäscher und Terroristen ihre Geschäfte über die Kreissparkasse abwickeln, betroffen ist aber vor allem der Normalbürger: Ohne dass Sie, liebe Leser, es je erfahren, dürfen künftig Fiskus, Sozialbehörden und die Agentur für Arbeit in Ihren Finanzen herumschnüffeln – ohne Anfangsverdacht und ohne richterliche Erlaubnis. Auch Ihre Bank erfährt nichts davon, wenn ab April 2005 die Finanzämter Zugriff auf alle Kontodaten bekommen. Stasi-Chef Erich Mielke wäre in Freudentränen ausgebrochen, zumal sich die Neuregelung auch auf Geheimnisträger wie Notare auswirken werden. Schweigepflicht zum Treuhandkonto? Die löst beim Fiskus demnächst allenfalls noch heiteres Schenkelklopfen aus.

Aber zurück zu den Medien: Die Propagandamaschine läuft auf vollen Touren. Wolfgang Clement erzählte der staunenden Öffentlichkeit am 17. August, dass ein ALG II-Empfänger mit einem Ein-Euro-Job locker auf 1.000 Euro netto kommen könne. Tags darauf forderte das Kölner Institut für deutsche Wirtschaft prompt, den Satz auf 50 Cent zu senken. Nimmt man die Regelleistung für eine alleinstehende Person von 345 Euro, eine Miete von 274 Euro, dazu Heizung 36 Euro, liegt die Leistung bei 655 Euro. Um auf 1.000 Euro zu kommen, müsste der bzw. die Betreffende 79,6 Stunden pro Woche arbeiten, im Osten der Republik sogar ein wenig länger, da dort die Leistungen etwas niedriger sind. Natürlich kann man so einen Job auch ablehnen, dann allerdings sollte man sich rechtzeitig einen Platz unter einer Brücke sichern.
Ja, wenn nur genügend Geld da wäre! Ach, was lese ich da im Spiegel? E.on hat sieben Milliarden Gewinn eingefahren. Dazu ist der Konzern praktisch schuldenfrei und hat zehn Milliarden Euro an kurzfristig verfügbaren Rücklagen an der Hand. Die Münchner Rück rechnet mit dem höchsten Gewinn in der Unternehmensgeschichte. BMW freut sich über das beste dritte Quartal seit der Gründung. Porsche hat erstmals den Sprung über eine Milliarde geschafft. Siemens, BASF, Adidas, die Deutsche Bank, die Telekom – alle fahren Geld ohne Ende ein. Investiert wird aber allenfalls im Ausland, ansonsten wird das Geld unter die Aktionäre gebracht. In Deutschland wird gespart, denn die Gewinne sollen weiter steigen. Und wenn die Bosse der Ansicht sind, dass ein paar Milliarden nicht ausreichen, werden eben mal Leute entlassen. Wenn die Personaldecke einmal doch nicht mehr reichen sollte, holt man sich ein paar Sozialhilfeempfänger an Bord, die dann für einen Euro in der Stunde baggern dürfen: Schauen wir doch mal, welche Arbeiten in ein paar Jahren noch als "gemeinnützig" eingestuft werden...

Wie passen solche Gewinnmeldungen mit der Tatsache zusammen, dass der Druck auf die Arbeitnehmer kontinuierlich steigt? Mittlerweile propagiert die Arbeitgeberseite schon die abstrusesten Ideen, um noch ein wenig mehr Gewinn aus den Mitarbeitern zu pressen: Zigaretten- und Kaffeepausen sowie Privatgespräche während der Arbeitszeit sollen vom Lohn abgezogen werden. Betriebsklima? Ja, wer braucht denn so was? Die Leute sollen sich am Arbeitsplatz nicht wohl fühlen, die sollen baggern! Aber warum denn so halbherzig? Lohnabzug, wenn der Rechner abstürzt, denn bis zum vollendeten Neustart sitzen die Leute däumchendrehend vor der Kiste. Lohnabzug beim Toilettengang; selbstverständlich muss da auch die Benutzung von Toilettenpapier in Rechnung gestellt werden. Also, seien Sie vorsichtig, wenn sich Ihr Chef künftig öfter nach Ihrer Familie erkundigt; die Frage nach dem Befinden der lieben Kleinen ist womöglich nur ein Vorwand, um die Lohnkosten zu drücken. Zwanzig Prozent Lohnabzug, oder dein Job ist weg. Streichung von Feiertagen. Samstagsarbeit (hat dann auch der Kindergarten samstags auf? Es soll ja auch berufstätige Eltern geben. Die haben dann noch einen Grund mehr, die Erziehung irgendwelchen Institutionen aufzuhalsen), Kürzung des Urlaubsanspruchs. Halbierung des Weihnachtsgelds. Davon unbehelligt predigt der Kanzler den Konsum: Leute, gebt zu Weihnachten ordentlich Geld aus! Bringt die Wirtschaft in Gang! Ja, Gerhard, dann geh doch mal Geld verteilen! Mehr Arbeit, weniger Lohn – aber wir sollen prassen! Mit Verlaub, besitzt der Mann noch ein Fünkchen Realitätssinn? Oder hat er jene Statistik gelesen, nach der jeder Bundesbürger – vom Säugling bis zum Greis – 87.500 Euro auf der hohen Kante hat? Ähem, angenommen, Sie, lieber Leser, haben 175.000 Euro im Sparstrumpf, wieviel haben wir beide dann im Durchschnitt? Richtig: 87.500. Mein Kontoauszug behauptet aber etwas völlig anderes. Folglich muss mich jemand beklaut haben. Ziehen Sie mal von 80 Millionen Bundesbürgern die ganzen Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger, Normalverdiener mit ein paar tausend Euro auf dem Sparbuch und Rentner, die am Existenzminimum leben, ab. Dann muss es doch Leute geben, die sehr viel mehr als 87.500 Euro haben, oder?

Ja, die liebe Statistik. Statistiken lassen sich bekanntlich umbiegen, Ursache und Wirkung beliebig mit anderen Ursachen und Wirkungen vertauschen. Tschernobyl zum Beispiel war völlig harmlos. Es sind lediglich ein paar Feuerwehrleute ums Leben gekommen und die Leukämieerkrankungen bei Kindern liegen innerhalb der normalen statistischen Schwankungsbreite. Immerhin wird man schon in 300 bis 900 Jahren wieder in Tschernobyl leben können, also halb so wild. Auch der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima war nicht so schlimm, wie immer behauptet wird. Die Krebserkrankungen lagen hinterher ebenfalls im üblichen Rahmen. Und wussten Sie, dass Sicherheitsgurte im Auto kaum Leben retten? Na, und ich Depp war angeschnallt, als mir der Mitsubishi frontal reinrauschte! Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS oder ADHS, je nach Ausprägung) ist reine Hysterie. Nun, die Autoren Walter Krämer und Gerald Mackenthun, die das in ihrem Buch "Die Panikmacher" veröffentlicht haben, scheinen kein Kind mit ADS großziehen zu müssen. Ach, was lese ich da in Krämers Bibliografie? – "So lügt man mit Statistik". Nun, das erklärt, weshalb die Herren Krämer und Mackenthun auch Uranmunition und BSE als vollkommen harmlos abtun.

Ein Beispiel mit abstrusen Statistikvergleichen zum Abgewöhnen gefällig? Ich sauge mir mal eben eines aus den Fingern: Zwischen 1933 und 1945 starben jährlich 500.000 Mitmenschen jüdischen Glaubens. Relativieren wir doch mal statistisch: In der Bundesrepublik sterben jährlich 820.000 Menschen. Danke der Nachfrage, bei mir steigt auch gerade das Abendessen hoch. Solche "wissenschaftliche" Belege werden von gewissen Kreisen aber immer gerne propagiert.

Aber wie gesagt (um noch einmal auf Krämer und Mackenthun zurückzukommen), eine gesunde Risikoeinschätzung ist eine Sache, Verharmlosung eine andere. Oder benutzen die Herren etwa Uranscheiben als Vesperbrettchen?

So, gestatten Sie mir zum Abschluss noch ein paar Zitate: "[Es] warten in Deutschland ... Zehntausende von Arbeitern auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen von General Motors, Aventis, Volkswagen und Continental, der sie in die Arbeitslosigkeit und anschließend mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert." Oder: "Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften ... fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Hirne zerfrisst." Ein kleines Quiz: a) von wem stammen diese Zitate, und b) wo wurden sie veröffentlicht?

Die Antwort mag Sie überraschen: a) Heiner Geißler und b) in der "Zeit". Was habe ich früher über diesen Mann gescholten, aber Geißler liefert den Beweis, dass es so etwas wie Altersweisheit doch gibt. Ich habe selten so viel Vernünftiges zum Thema Neoliberalismus gelesen wie in diesem Artikel. Und das in einer Diktion, gegen die sich meine Bösartigkeiten teilweise wie Einträge in Poesiealben lesen.

Ich glaube, Freunde und Nachbarn, derzeit würde ich mich lieber mit Heiner Geißler auf ein Bier treffen als mit unserem Bundeskanzler...

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