"Mögest du in interessanten Zeiten leben!"

© Eric Fricke

Wenn Sie, Freunde und Nachbarn, einen Chinesen ärgern, mag es durchaus sein, dass er Ihnen einen heftigen Fluch entgegenschleudert: "Mögest du in interessanten Zeiten leben!"

Zauberer Rincewind, Assistent des Bibliothekars der Unsichtbaren Universität (sein Vorgesetzter ist ein Zauberer, der durch einen thaumaturgischen Unfall in einen Orang-Utan verwandelt wurde und sich weigert, sich zurückverwandeln zu lassen) in den Scheibenwelt-Romanen von Terry Pratchett, kennt das; eigentlich würde er ja lieber ein langweiliges Leben führen, was aber Herr Zweiblum, Tourist in Ankh-Morpork, stets unfreiwillig zu verhindern weiß... aber lesen Sie die Bücher doch selbst.

Interessante Zeiten haben wir auch. Fünfkommazwei Millionen arbeitslose, Hut ab! Aber halt, nein, das stimmt ja so eigentlich gar nicht. Das ist nämlich reine Statistik. In Wirklichkeit sind es nur 4,8 Millionen, nicht wahr, weil, ja, also, jetzt wird halt jeder mitgezählt, der einen Hammer halten kann, aber es aus irgendwelchen Gründen nicht tut, also, keine Panik, alles in Butter.

Tja, und prompt schießt die Agentur für Arbeit quer: Da hätten noch etliche Zahlen gefehlt, eigentlich hätten wir 5,3 Millionen Arbeitslose. Tja, peinlich, Freunde und Nachbarn, aber wozu gibt es denn Statistiker? Die schaffen das, was Gerhard Schröder nicht packt: Wir haben in Wirklichkeit nur 3,99 Millionen Arbeitslose! Nanu, wie das? Ja, also, ähem, im Zuge der Globalisierung muss man ja die Zahlen international vergleichbar machen, nicht wahr? Also wird jeder aus der Arbeitslosenstatistik geworfen, der mindestens eine Stunde pro Woche arbeitet. So einfach ist das. Natürlich ist diese Methode der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu kurz gegriffen; würde man alle aus der Statistik werfen, die, sagen wir, eine Stunde im Monat arbeiten, stünden wir glänzend da. Indes hat die Sache einen klitzekleinen Haken: Freilich kann man sich mit der Brechstange eine Vollbeschäftigung zusammenklamüsern, davon bekommen die Arbeitslosen aber auch nicht mehr Geld, um die Wirtschaft anzukurbeln. Übrigens können Sie die nach oben gereckte Faust wieder runternehmen und mit dem Singen aufhören: Der Laden heißt "Internationale Arbeitsorganisation" und nicht "Internationale der Arbeiterklasse".

Interessante Zeiten werden über das Vorhandensein von Extremen definiert. Logisch, das Mittelmaß ist langweilig. Das ist wie mit einer Konzertkritik auf der Kulturseite: Einen fetten Artikel gibt es nur, wenn die Band entweder saugut oder grottenschlecht war. Einem soliden, ordentlich gespielten Konzert widmet ein Kritiker keine fünf Zeilen. Nun, an Extremen mangelt es nicht: Die Mitte zwischen Hartz IV-Kandidaten einerseits und Betuchten andererseits bröckelt weg; einige wenige Mercedes-Fahrer steigen zum Maybach auf, aber immer mehr Golf-Fahrer werden zu Fußgängern. Da wundert sich die Autoindustrie über den Käuferschwund, aber vielleicht ist sich Peter Hartz nicht so recht darüber im Klaren, dass sich die wenigsten Arbeitslosen einen Phaeton anschaffen werden.

Jede siebte Familie ist arm – lebten 1998 noch 12,1 Prozent in Deutschland unter der Armutsgrenze, sind es jetzt 13,5 Prozent. Das sind über elf Millionen Menschen. Während sich laut Paritätischem Wohlfahrtsverband der Schuldenstand der Ärmsten in wenigen Jahren verdoppelt hat (wobei hier die Auswirkungen von Hartz IV noch nicht einmal berücksichtigt sind), konnten die reichsten zehn Prozent der Haushalte ihr Vermögen von durchschnittlich 504.000 auf 624.000 Euro steigern. In Westdeutschland hat sich die Kinderarmut während der letzten 15 Jahre verdoppelt, die Quote liegt bei 9,8 Prozent, Ostdeutschland ist mit 12,6 Prozent dabei. In Wirklichkeit dürften die Zahlen eher höher sein, wenn man den üblichen Maßstab für Armut (dabei stehen weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung) anlegt; die internationale Vergleichsstudie "Child Poverty in Rich Countries 2005" legt die Messlatte bei 50 Prozent des Durchschnittseinkommens an.

Aber, Freunde und Nachbarn, wenn unser aller Freund George W. Bush zu Besuch kommt, ist plötzlich Geld da. Was die Aktion gekostet hat, weiß allerdings angeblich keiner, womöglich ist es ein Staatsgeheimnis, was da an Steuergeldern verbraten wurde. Im Internet kursieren gerüchteweise Summen zwischen 60 und 200 Millionen Euro, wobei letztere Zahl sicherlich zu hoch gegriffen ist. Der hessische MdL Mathias Wagner wüsste auch gerne Näheres und hat eine Anfrage gestartet. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im hessischen Landtag, Tarek Al-Wazir, äußerte sich so: "Viele Bürger und Bürgerinnen in Hessen verstehen die Geheimniskrämerei nicht, mit der die Kostenfrage während des Bush-Besuches auch von der hessischen Landesregierung behandelt wird. Und bei aller Liebe für die Verfestigung der deutsch-amerikanischen Freundschaft und der notwendigen Einschränkungen ihres Alltages wegen Sicherheitsmaßnahmen muss doch zu bilanzieren sein, was unterm Strich die kurze Visite in Wiesbaden-Erbenheim und der Transit vom Flughafen Frankfurt nach Mainz die hessischen Steuerzahler gekostet hat."

"Notwendige Einschränkungen ihres Alltags"? Das ist nett formuliert. "Einschränkung der Bürgerrechte" hätte die Sache eher getroffen, oder wie nennt man das sonst, wenn es einem verboten wird, den eigenen Balkon zu betreten oder ein Transparent im Wohnzimmerfenster anzubringen? Verzeihung, es waren natürlich keine Verbote, sondern "dringende Empfehlungen". Denen leistet man natürlich besser Folge, sonst könnte der Scharfschütze auf dem gegenüberliegenden Dach noch auf komische Gedanken kommen...

Waren all die Sicherheitsmaßnahmen nötig? Wenn ja, fragen wir doch einmal nach dem Grund: Was könnte die Sicherheitskräfte zur Annahme bewogen haben, irgendjemand könnte irgendetwas gegen Georgie haben? Hm...

Als seinerzeit Michail Gorbatschow nach Deutschland kam, haben ihm die Leute schier die Füße geküsst. Ob Kennedy, Nelson Mandela oder der Papst – für keinen hohen Besucher wurde bis dato ein derart großer und teilweise wirklich unsinniger Aufwand betrieben. Ein Steinmetz wurde aufgefordert, die 80 Grabsteine auf seinem Grundstück zu entfernen, damit sie nicht auf die Fahrzeugkolonne des Präsidenten geworfen werden konnten. Der brave Handwerker versuchte vergeblich, die Polizei davon zu überzeugen, dass sich Granittafeln mit einem Gewicht zwischen 100 und 200 Kilo nur bedingt als Wurfgeschosse eignen. Als das nichts half, zeigte er Zivilcourage und weigerte sich schlicht, sein Grundstück zu räumen – dem Vernehmen nach ohne rechtliche Konsequenzen.

15.000 Beamte waren im Einsatz, die Produktion bei Opel musste ausfallen (aber wehe, es naht ein Feiertag, dann bricht die gesamte Wirtschaft zusammen!), Gullideckel wurden zugeschweißt, Linde empfahl den Arbeitnehmern, einen Tag Urlaub zu nehmen, Organisatoren von Demonstrationen wurden aufgefordert, die Teilnehmer namentlich zu melden, die Presse wurde teilweise ausgesperrt, Geschäfte mussten schließen, Flüge wurden eingeschränkt, Autobahnen gesperrt, ein Teilnehmer der Aktion "Not welcome, Mr Bush" wurde von der Polizei an seinem Arbeitsplatz aufgesucht und wegen eines Bush-kritischen Leserbriefs zur Rede gestellt, kurz, es ging zu wie in einer Bananenrepublik. Und die amerikanische Presse wunderte sich, warum ihr Präsident in old Germany durch menschenleere Straßen fahren musste. Ja, so ein Ärger aber auch... Übrigens, was machen die eigentlich in Washington, wenn Dubja mal das Weiße Haus verlässt? Den Notstand ausrufen?

Schließen wir, Freunde und Nachbarn, unsere heutigen Betrachtungen mit einem Gedicht von Bertold Brecht:

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sah'n sich an,
und der Arme sagte bleich:
"Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!"

03_03_05

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