Hwgl

© Eric Fricke

Missmutig legte Hwgl seinen Faustkeil auf die Seite und fragte sich nach dem Grund für seine schlechte Laune. Dabei schien doch nach Wochen endlich wieder einmal die Sonne ins Neandertal, nachdem es bis in den Sommer geschneit hatte. Vielleicht hatte der junge Grnps doch Recht, als er einen Zusammenhang zwischen den Lagerfeuern und der zunehmenden Kälte herstellte? Hwgl schüttelte grunzend den Kopf. Was konnte so ein Jungspund schon wissen? Freilich, Hwgl war mit seinen 25 Jahren beileibe nicht mehr der Jüngste, aber er war noch rüstig – und vor allem besaß er eine Menge Lebenserfahrung. Meine Güte, sollte man etwa frieren, um die Wettergötter zu besänftigen? Natürlich machte so ein Feuer Rauch, aber Wolken hatte es schließlich schon immer gegeben. Außerdem hatte Hwgl großen Respekt vor der modernen Technik. Man stelle sich vor: Früher mussten die Leute warten, bis in der Nähe ein Blitz einschlug, um ein anständiges Feuer zu bekommen!

Großvater hatte vor vielen, vielen Sommern Hwgl einmal die Geschichte von Hwkng erzählt. Das war ein junger Mann gewesen zu der Zeit, als Opa selbst noch jung war. Hwkng musste ein ziemlich wunderlicher Typ gewesen sein. Erzählte immer Geschichten von leuchtenden Scheiben, die am Himmel herumflogen. Wollte Steinkreise errichten. Hatte die merkwürdige Idee, Höhlen aus Holz und Fellen zu bauen. Einmal hatte er einen ganzen Tag lang eine Baumscheibe vor sich hergerollt, völlig durchgeknallt, immer wieder in die Hände geklatscht und gejubelt. Hwgls Opa hatte dem dann ein Ende gemacht, indem er Hwkng die Baumscheibe auf den Kopf schlug. Viel geholfen hatte das aber wohl nicht. Schon ein paar Tage später sah man Hwkng mit einem gebogenen Stück Holz herumlaufen, dessen Enden er mit einer Mammutsehne verbunden hatte: Er wolle damit auf die Jagd gehen. Mit anderen Worten: Der Typ war der Stammestrottel.
Wie dem auch sei, eines Tages, als ein Gewitter aufzog, setzte sich Hwkng in den Kopf, Feuer zu holen. Er schnappte sich einen trockenen Ast, rannte auf den Hügel und hielt das Holz in die Höhe. Hwgls Großvater musste zugeben, dass Hwkng mit dieser Methode Erfolg hatte, allerdings mussten sie sich danach einen neuen Stammestrottel suchen.

Aber mit zwei Stöcken Feuer zu machen – das war echter Fortschritt. Andererseits – was sollte nach einer Erfindung von derartiger Tragweite noch wesentlich Neues kommen? Im Grunde war die Wissenschaft damit obsolet geworden. Hwgl fragte sich, ob das vielleicht der Grund für seine schlechte Stimmung war.
Andererseits war er Optimist. Vielleicht würde irgendwann in unvorstellbar langer Zeit jemand eine verbesserte Steinaxt herstellen? Klar, das würde man nicht mehr erleben, aber der Hoffnungsschimmer, dass die Menschheit im Laufe der Zeit vielleicht doch noch den einen oder anderen kleinen Fortschritt machen würde, hatte etwas Tröstliches. Und schließlich – war man denn nicht die Krone der Schöpfung (von Hwkng vielleicht einmal abgesehen)? Ja, Freunde und Nachbarn, man war ZIVILISIERT! Heutzutage bestattete man die Verstorbenen, anstatt sie, wie früher, aufzuessen!

Zugegeben, die Methode war noch nicht ganz ausgereift; vor zwei Sommern hatte sich der alte Gnrk wieder ausgegraben, weil er doch noch nicht ganz tot gewesen war. Das Problem wurde aber mit einem schnellen Keulenschlag behoben; manchmal mussten für den Fortschritt eben Opfer gebracht werden.
Hwgl grübelte. Er ärgerte sich über Grnps und seine albernen Ideen. Die waren nicht besser als Hwkngs Spinnereien. Die Zivilisation sollte das Wetter verändern? Pah! Trotzig legte Hwgl noch ein Stück Holz auf. Es hatte schließlich beim Feuer in letzter Zeit doch noch die eine oder andere Optimierung gegeben: Seit der Verwendung von trockenem Holz war die Rauchentwicklung spürbar zurückgegangen. Aber zugegeben, auch hier war eine wesentliche Verbesserung praktisch nicht mehr möglich. Großvater hatte erzählt, dass Stammestrottel Hwkng sogar Visionen gehabt hatte, das Feuer zu verbessern: Wenn man die richtigen Steine fände und die aneinander hielte, gäbe es einen Blitz und danach eine pilzförmige Rauchwolke. Nun ja, Hwgls Großvater hatte schon immer vermutet, Hwkng habe manchmal heimlich Fliegenpilze gegessen.

Ja, der gute alte Opa. Fast 32 war er gewesen, als ihn der Säbelzahntiger erwischte. So alt müsste man werden und dabei noch so gut beieinander sein wie Opa. Hwgl zählte an seinen Fingern ab: Da hätte er ja noch ... sieben Sommer vor sich! Oder sechs? Noch mal rechnen...
Aber das verbesserte seine Laune auch nicht.

Vielleicht lag es daran, dass diese komischen Typen in der Nähe aufgetaucht waren. Kaum Haare am Körper. Und ständig gaben sie irgendwelche merkwürdigen Laute von sich. Nicht das gemütliche Grunzen seiner Leute, sondern ein ständiges Gejammere. Diese hässlichen Figuren waren offenbar strohdoof. Ein wesentliches Indiz dafür war, dass sie Höhlen aus Stöcken und Fellen bauten. Außerdem waren sie pervers. Das hatte Knk, der Stammesälteste, hinter vorgehaltener Hand berichtet. Angeblich trieben sie es miteinander, indem sich Männer und Frauen Bauch an Bauch aufeinanderlegten. Woher Knk das so genau wusste, sagte er nicht. Aber zuzutrauen war so etwas diesen haarlosen Geschöpfen schon. Alleine schon der Anblick: Kein Kinn, keine Stirnwulst, klapperdürr. Hwgl schauderte. Er nahm wieder seinen Faustkeil in die Hand und betrachtete ihn sinnend. Er seufzte, während er an die gute alte Zeit zurückdachte.

Ach, was war nur aus dieser Welt geworden?

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