Gesellschaft im Umbruch

© Eric Fricke

Die Welt befindet sich im Umbruch. Die gesellschaftlichen Veränderungen halten Einzug in alle Lebensbereiche. Spürbar ist das insbesondere in der so genannten "westlichen Welt", bedingt durch die bessere technische Ausstattung – Stichwort "Kommunikation". Ob man diesbezüglich von "Bevorzugung" sprechen kann, ob sich dieser Vorsprung in gesellschaftlicher Hinsicht als Segen erweisen wird, muss sich erst einmal zeigen. Als Nutznießer dieser Entwicklung möchte ich nun keinesfalls Maschinen stürmen, aber bekanntlich hat jede Medaille auch ihre Kehrseite.
Wenn Historiker eines Tages auf unsere Zeit zurückblicken werden, werden sie möglicherweise von einem von Ängsten geprägten Zeitalter sprechen. Wir erinnern uns: Als das magische Jahr 2000 am Horizont erschien, wurde uns bewusst, wie sehr wir von der Technik abhängen. Ein Speicherproblem bei alter Software führte dazu, dass die Jahreszahl nicht vollständig erkannt wurde. Für die betreffenden Rechner kam nach "99" nicht "2000", sondern "00". So hätten zum Beispiel die Überwachungssysteme von Interkontinentalraketen dies dahingehend interpretieren können, dass seit einem Jahrhundert kein Kontakt mehr zu den Kontrollstationen bestand, worauf ein selbsttätiger Start möglich gewesen wäre. Hunderttausende von Programmierern, teilweise bereits im Ruhestand, lösten das Problem, sodass der Jahreswechsel relativ reibungslos vonstatten ging – bis auf Kleinigkeiten wie Einschulungsbescheide für 107-jährige, aber auch Ernsthafteres wie das Herunterfahren eines japanischen Atomkraftwerks.
Vieles wurde im Nachhinein als Hysterie interpretiert, es gab Vergleiche mit dem Jahr 1000, wo viele Menschen aus Angst vor einer neuen Sintflut in die Berge geflohen waren. Natürlich hinkte dieser Vergleich, da das Jahr-2000-Problem tatsächlich existierte, aber die zunehmende Unruhe der Menschen um die Jahrtausendwende bezog sich nicht ausschließlich auf Computerprobleme. Vielleicht hatten viele erkannt, dass tatsächlich eine Schwelle überschritten wurde. Die großen Menschheitsprobleme waren ungelöst, aber das 20. Jahrhundert war überstanden, ohne dass es zur finalen Katastrophe gekommen war. Jetzt war klar, dass die Probleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelöst werden müssen – ohne zu wissen, wie. Zeitgleich begann mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Wiederkehr des ungezügelten Kapitalismus, zu dem es – scheinbar – keine Alternative gibt. Ebenso verheerend auf die kollektive Psyche wirkten sich die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon aus. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts verlor vieles von dem, an was wir geglaubt hatten, an Gültigkeit.

Alles fließt...
Die technische Entwicklung – so sie in Silicon Valley und nicht in Detroit oder Wolfsburg stattfand – verlief in den letzten zwanzig Jahren ebenso rasant wie ihr Preisverfall. Ein Beispiel: Bei einem Buchprojekt, an dem ich gestalterisch mitarbeitete, sammelten sich nach dem Scannen über zehn Gigabyte an Bilddaten an. Kein Problem, da diese Daten lediglich einen Bruchteil meiner Speicherkapazitäten belegen. Festplatten in solchen Größenordnungen bekommt man heute für wenig Geld im Supermarkt um die Ecke. Anfang der Achtzigerjahre kostete eine externe Apple-Festplatte mit einer Kapazität von zehn Megabyte(!) rund 10.000 Mark. Gälten diese Preisverhältnisse heute noch, hätte ich vor der Annahme des Auftrags erst einmal rund fünf Millionen Euro in Speichermedien investieren müssen.
Heute ist jeder in der Lage, sich Rechnerleistungen ins Wohnzimmer zu stellen, von denen die NASA zu Zeiten der Mondflüge nicht einmal zu träumen wagte. Dass damit nicht das eigentlich nötige Fachwissen, zum Beispiel zur Gestaltung von Drucksachen, mitgekauft wird, übersehen indes die meisten – zum Leidwesen einer ganzen Branche, deren hoch qualifizierte Fachkräfte angesichts der typografischen, gestalterischen und technischen Mängel unzähliger Do-it-yourself-Flyer eigentlich ständig mit den Tränen kämpfen müssten. Vom Verlust des Arbeitsplatzes ganz abgesehen.
Aber die Technik ist nur ein Aspekt von vielen. Man muss dabei gar nicht so weit gehen wie einige Wissenschaftler, die spekulieren, dass sich in den letzten 30 Jahren die Gehirne der Menschen, die etwa seit Beginn der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts zur Welt kamen, verändert hätten. Alleine das gestiegene Bewusstsein, dass nichts von Dauer ist, genügt, um tiefgreifende Änderungen in der kollektiven Psyche auszulösen.
Noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt es als gesichert, dass das Universum statisch sei. Selbst Einstein tat sich schwer mit dem Gedanken an ein veränderliches Weltall. Logisch, dass der vermeintlich feste Boden, auf dem wir stehen, keine Ausnahme macht. In von menschlichen Sinnen nicht erfassbaren Zeiträumen verändert sich die Erde; wo früher ein Meer wogte, steht heute ein Gebirge, wo einst Brontosaurier unter Palmen grasten, liegt heute Eis. Den Begriff "ewiges Eis" kann man sich freilich abschminken: Panta rhei – alles fließt.
Man mochte sich vielleicht mit einer sich stetig verändernden Erde abfinden, aber die Forschungsergebnisse des vergangenen Jahrhunderts konnten nicht dazu beitragen, dass man sich angesichts der geologischen Zeiträume, die ja für den Menschen nahezu "ewig" sind, beruhigen konnte: Unzählige Katastrophen hatten in der Erdgeschichte stattgefunden, und man fand keinerlei tröstenden Hinweis, dass dergleichen in Zukunft nicht mehr geschehen könne. Im Gegenteil. Ein großer Meteoritentreffer, wie er mutmaßlich zum Aussterben der Saurier geführt habe, sei rein statistisch überfällig – immer wieder kommen Asteroiden der Erde bedrohlich nahe; auch jener, der in etwa zehn Jahren die Erdbahn kreuzen wird, schien nach ersten Beobachtungen ein Kandidat für einen Volltreffer zu sein. Erst nach Tagen kamen Wissenschaftler zum Schluss, dass der Asteroid die Erde verfehlen wird, wenn auch – nach kosmischen Maßstäben – recht knapp. Hoffen wir, dass die Berechnungen stimmen.

...alles ändert sich
Es braucht aber keine außerirdischen Brocken, um Katastrophen anzurichten; dass wir uns auf einer hauchdünnen Gesteinsschale über glutflüssigem Magma bewegen, erfuhren wir schon in der Schule im Geologieunterricht. Das Wissen um diese Fakten hat aber wenig Tröstendes, wenn – wie zuletzt an Weihnachten 2004 – sich die unterirdischen Gewalten Bahn brechen und eine Flutwelle auslösen, die Hunderttausende in den Tod reißt.
Naiv ist, wer glaubt, derlei geschähe immer nur "woanders". Auch unsere Breiten sind nicht sicher. Freilich, man weiß, dass der Oberrheingraben tektonisch aktiv ist (was die Energieversorger aber keinesfalls davon abhält, dort Atomkraftwerke zu bauen); das Granitgestein des Schwarzwaldes wähnte man indes relativ solide. Mein Glaube daran wurde schon bei den Erdbeben in Bernau und im Glottertal (und zwar im Wortsinne) erschüttert – beide Beben hatte ich nahe des Epizentrums erlebt. Dass aber selbst unter dem Waldkircher Hausberg, dem Kandel, eine geologische Zeitbombe tickt, wurde mir erst klar, als mich ein Beben der Stärke 5,4 aus dem Schlaf rüttelte.
Die Medien sorgen bei solchen Geschehnissen dafür, dass sie in Windeseile global verbreitet werden - das macht Katastrophen, selbst wenn ihre unmittelbaren Auswirkungen lokal oder regional begrenzt sind, zu kollektivem Erleben. Dadurch wird das subjektive Empfinden bezüglich der Häufigkeit solcher Ereignisse natürlich verändert. Andererseits stellen sich, nach mehreren deutlich spürbaren Erdbeben in relativ kurzer Zeit, viele Südbadener die Frage, ob es nicht tatsächlich eine Häufung gibt, zumal ja – laut Statistik – wieder einmal ein Erdbeben in der Größenordnung desjenigen, das im Mittelalter Basel zerstörte, fällig sei.
Aber selbst wenn die Erde unter uns Ruhe gibt, wähnen wir uns nicht sicher angesichts dessen, was sich über unseren Köpfen zusammenbraut. Das globale Klima ändert sich. Wie weit da die Menschheit die Finger im Spiel hat, ist noch nicht endgültig geklärt. Einen erheblichen Anteil – bedingt durch die Verbrennung fossiler Energieträger – haben wir daran aber sicher. Nun hat es zweifelsohne in der Erdgeschichte so etwas wie ein "Normalklima" nie gegeben – im Laufe der Jahrmillionen war es immer wieder deutlich wärmer oder kälter als heute. Mit Sicherheit ausschließlich "hausgemacht" ist aber die Zerstörung der Ozonschicht, die uns in den kommenden Jahrzehnten eine drastische Zunahme von Hautkrebs bescheren wird.
Auch ist mit von Kriegen – heutzutage als "bewaffnete Auseinandersetzungen" verniedlicht – zu rechnen, wenn Ressourcen wie Erdöl oder Trinkwasser zur Neige gehen. Einen Anfang haben wir schon beim Irakkrieg erlebt. Ohne Alternativen in der Energieversorgung werden diese Konflikte an Anzahl und Schärfe zunehmen – da ist es symptomatisch (und gleichermaßen erschreckend), wenn die US-Regierung derzeit "kleine" Atombomben erprobt, mit denen Bunkeranlagen von Terroristen selbst innerhalb von Städten gesprengt werden sollen.

Widersprüche
Nicht zu unterschätzen in ihrer Auswirkung auf die kollektive Psyche sind auch die Widersprüche, mit denen wir täglich konfrontiert werden – es scheint, dass jeder einzelne Aspekt unseres Lebens ein Dilemma in sich birgt.
Dreh- und Angelpunkt, insbesondere der westlichen Welt, ist das solide Funktionieren der Wirtschaft und des Geldflusses. Dass das Geld nicht in dem Maße fließt, wie es sollte, sondern vermehrt kumuliert wird, ist systemimmanent – eine zinsbasierte Währung hat schon immer dazu verlockt, Reichtum "von alleine" wachsen zu lassen. Das dies langfristig nicht funktionieren kann, ist jedem Volkswirtschaftler bekannt, wird aber gemeinhin ignoriert.
Wenn die Gewinnerzielung und -maximierung oberste Priorität genießt, wird man zwangsläufig mit Hindernissen konfrontiert – mit der Ökologie beispielsweise. Es ist schließlich unbestreitbar, dass der Einbau von Filteranlagen in die Schornsteine einer Produktionsanlage den Gewinn schmälert. Für ein Unternehmen ist das keine Investition, denn die Filter werden auch künftig nicht zur Gewinnsteigerung beitragen. Zweifellos hat hier in weiten Teilen der Wirtschaft, nach massivem öffentlichen Druck, ein Umdenken stattgefunden, dennoch scheinen sich etliche Unternehmen ihrer Verantwortung noch nicht so recht bewusst zu sein und betreiben ihren Raubbau dort, wo nicht mit Widerstand zu rechnen ist. Coca-Cola hat beispielsweise keinerlei Hemmungen, indischen Bauern regelrecht das Wasser abzugraben.

Keine Skrupel
Insgesamt kann man seit einigen Jahren verstärkt feststellen, dass das Ziel der Gewinnmaximierung jegliche Skrupel auszulöschen scheint. Gemäß dem Motto "wo gehobelt wird, fallen Späne" nehmen Konzerne in Kauf, soziale und gesellschaftliche Veränderungen auszulösen, die nicht unbedingt im Sinne eines geregelten Miteinanders sind. Schon alleine die Diskussion über die Problematik eines ungezügelten Kapitalismus genügt, um die Fronten der Befürworter und Gegner auf eine ungesunde Weise zu verhärten. Dies sind Indizien für eine drohende gesellschaftliche Spaltung und Radikalisierung – und es ist beileibe nicht weit hergeholt, wenn einem das bekannt vorkommt. Wenn es gilt, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen (oder wenigstens zu erhalten, denn wer mag schon ernsthaft daran glauben, dass eines Tages fünf Millionen neue Arbeitsplätze aus dem Nichts auftauchen?), ist es natürlich konsequent, den Gedanken an ökologische Probleme weit von sich zu schieben. Dann darf man auch keine Hemmungen haben, Waffen in Krisengebiete oder an totalitäre Staaten zu liefern. Es sei aber schon die Frage gestattet, was man eigentlich will: Arbeit und Wohlstand durch Krieg und Umweltzerstörung oder eine halbwegs intakte Umwelt und eine Nichtbeteiligung an Kriegen, weil man keine Waffen liefert – und damit den Verlust des Wohlstandes. Ein ökologisch verträglicher, friedlicher und dennoch ungezügelter Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich. Welcher Vorstandsvorsitzende eines Rüstungsunternehmens wird schon öffentlich zugeben, dass er sich über Krisenherde freut, weil die Waffenverkäufe den Aktienkurs nach oben bringen? Was sind das überhaupt für Menschen, die Maschinenpistolen produzieren, die zum Gebrauch für Kinder optimiert sind? Es ist ein Witz: Kein Unternehmen darf Güter auf den Markt bringen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch den Benutzer gefährden. Ein Elektrogerät ohne Schutzerdung oder Isolierung – undenkbar. Andererseits dürfen Firmen Güter herstellen, deren einziger Sinn und Zweck die Auslöschung menschlichen Lebens ist. Eine Maschinenpistole von Heckler & Koch ist definitiv kein Arbeitsgerät für einen Förster.
Freilich lassen sich nicht alle Unternehmen über einen Kamm scheren; gerade die kleinen und mittelständischen Betriebe zeichnen sich oft durch ein hohes Maß an sozialer Verantwortung aus. Konzerne gehören jedoch in eine ganz andere Kategorie: Es handelt sich um Schaltstellen der Macht, nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen.

Vertrauenskrise durch Photoshop
Die innere Zerrissenheit der Gesellschaft ist auch durch den Verlust des Vertrauens in die Institutionen geprägt. Die Medien produzieren eine Bilderfülle, deren Glaubwürdigkeit durch praktisch perfekte Manipulationsmöglichkeiten gelitten hat. Mochte früher selbst dem visuell eher durchschnittlich begabten Betrachter auffallen, dass auf einem Stalin-Bild der daneben stehende Trotzki übermalt wurde, ist heute das Erkennen solcher Fälschungen nahezu unmöglich geworden – es sei denn, der Bildoperator war beim Basteln in Photoshop gar zu nachlässig. So geschehen bei von der US-Regierung herausgegebenen Fotos, wo statt einer handvoll Soldaten ganze Mannschaften abgebildet waren. Betrachtete man die Bilder genauer, stellte sich heraus, dass die Soldaten aus dem Vordergrund kopiert und in den Hintergrund eingesetzt worden waren. Dass mittlerweile die Verbreitung solcher Manipulationen leichter als früher ist, hängt auch mit der zunehmenden Medienkonzentration zusammen – es gehen immer mehr Kontrollinstanzen verloren. Und welcher durchschnittliche Bürger ist schon in der Lage, jedes ihm vorgesetzte Bild auf winzige Unstimmigkeiten in Perspektive und Lichtverhältnisse zu prüfen (so sie denn vorhanden sind), wo doch schon Fachleute nicht mehr für die Echtheit eines Bildes die Hand ins Feuer legen möchten?

Kernproblem Angst
Das Kernproblem der gesellschaftlichen Veränderungen heißt Angst. Sie konzentriert sich in erster Linie auf den Besitz und den sozialen Status, da man sich in der westlichen Welt vorwiegend darüber zu definieren glaubt. Perfiderweise müssen in einer Gesellschaft nur genügend Individuen daran glauben, um daraus eine Tatsache zu machen; den Rest erledigt der Gruppenzwang. Die Verlustängste beziehen sich vorwiegend auf die Quelle des mehr oder weniger großen Wohlstands, den Arbeitsplatz. Und der ist heute so unsicher wie lange nicht mehr – vielleicht seit Ende der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Oder so unsicher wie noch nie – denn die Tendenz geht eindeutig dazu, so viel wie möglich mit so wenigen wie möglich zu produzieren.
Wenn die Angst ein gewisses Maß übersteigt, greift sie auch auf die staatlichen Institutionen über – zumindest in einem nicht totalitär geführten Staatswesen; in diesen wird die Angst instrumentalisiert: Wenn du nicht gehorchst, kommst du ins KZ! In einem nicht autoritär geführten Staat drohen möglicherweise Unruhen, deren erste Opfer vermeintliche oder tatsächliche Privilegierte sind. Wenn der Staat aber die bestehenden Verhältnisse nicht ändern kann oder ändern will, bleibt ihm nur die Möglichkeit der Kontrolle, um gegen ihn oder seine Vetreter gerichteten Aktionen schon im Keime zu ersticken. Eben diese Möglichkeiten finden auch in Deutschland Anwendung – mit dem Risiko, zum Spitzelstaat zu werden. In manchen Bereichen wurden hier bereits nicht mehr tolerable Grenzen überschritten.
Ein ursprünglich demokratisch geprägter Staat kann seine Bürger aber nur überwachen, wenn er dafür eine Gegenleistung verspricht – zum Beispiel Sicherheit. Die Anschläge auf das Pentagon und das World Trade Center boten hier einen Anlass, denn die Bedrohung durch den Terrorismus wurde von den Bürgern wesentlich stärker empfunden, als sie es tatsächlich war. Im Gegenteil: Erst nach dem von den USA erklärten "Krieg gegen den Terrorismus" (was ungefähr so sinnvoll ist wie "Krieg gegen den Krieg" oder "Terrorismus gegen den Terrorismus") stieg die Zahl der weltweiten Anschläge, die meisten davon im Irak, ins Uferlose – und zwar laut einer Studie der US-Regierung, der das eigentlich schwer im Magen liegen müsste. Letztlich ist das natürlich auch eine Instrumentalisierung der Angst, mit dem Unterschied zu totalitären Systemen, dass ein sich als demokratisch bezeichnender Staat den Verursacher der Angst nach außen projiziert.

Sicherheit um jeden Preis?
Auch in Deutschland heißt das Zauberwort "Sicherheit". Der Aktionismus, der betrieben wird, um dem Bürger Sicherheit als höchstes Gut in allen Lebensbereichen nahe zu bringen, nimmt dabei zuweilen geradezu satirische Züge an. So soll der Bürger mit Hubschraubern vor Graffitti-Sprayern geschützt werden. SPD und CDU plädieren in befremdender Einigkeit für ein Rauchverbot beim Autofahren – ob gleichzeitig auch das Essen und Trinken am Steuer oder die Mitnahme miniberockter Beifahrerinnen unter Strafe gestellt werden soll, ist noch nicht raus. Grotesk auch das Gerangel um ein Anti-Diskriminierungsgesetz, das den Bürger vor jeglicher Benachteiligung schützen soll – als gäbe es kein Grundgesetz. Ein Hausbesitzer, der eine Wohnung inseriert, könnte schwer in die Klemme kommen, wenn er die gerne an eine Familie mit Kindern vermieten möchte – denn damit diskriminiert er alle Alleinstehenden und kinderlose Paare.
Man könnte meinen, es gäbe in diesem Land keine schwerwiegenderen Probleme. Der Gedanke an Scheingefechte zur Ablenkung von den tatsächlichen Schwierigkeiten drängt sich geradezu auf. Jede noch so halbgare Idee wird herausposaunt und sorgt für Zündstoff. Konsequent zu Ende gedacht ist keiner der Ansätze. Der Staat traut seinen Bürgern immer weniger Verantwortungsbewusstsein zu, deshalb muss alles per Gesetz geregelt werden. Und mit jedem scheinbaren Mehr an Sicherheit geht zwangsläufig ein Stück Freiheit verloren. Natürlich ist ein gewisses Maß an Sicherheit wichtig. Niemand wird ernsthafte Argumente zum Beispiel gegen die Anschnallpflicht im Auto vorbringen können. Wer schon einmal nach einem schweren Unfall lediglich mit einer Gurtprellung aus den Trümmern seines Autos gestiegen ist, weiß, wovon die Rede ist. Wenn aber Bereiche reglementiert werden sollen, wo deren der Nutzen fraglich ist, handelt es sich schlicht um Gängelung. Das zeigen schon die fadenscheinigen Begründungen, mit denen beispielsweise ein Rauchverbot am Steuer "schmackhaft" gemacht werden sollte: Unfallforscher hätten nämlich festgestellt, dass sich ein Auto, dessen Fahrer nach einer heruntergefallenen Zigarette sucht, bei Tempo 50 in der Sekunde um (wörtlich!) "mindestens 14 Meter weiterbewegt". Ein Auto legt bei 50 Stundenkilometern ziemlich genau 13,88 Meter in der Sekunde zurück. Nicht "mindestens" – oder sind die zitierten Unfallforscher der Meinung, dass die zurückgelegte Strecke bei konstantem Tempo variabel ist? Diese Strecke legt das Auto auch dann zurück, wenn der Fahrer nicht raucht, sondern nach einer heruntergefallenen CD sucht. Insofern sollte das Musikhören im Auto auch verboten werden. Andererseits scheint sich niemand darüber aufzuregen, dass ein Auto bei Tempo 200 in jeder Sekunde 55,5 Meter zurücklegt – eine Geschwindigkeit, die auf deutschen Autobahnen nicht unüblich ist.
Ein anderes Beispiel für blinden Aktionismus und halbgare Gesetze: Es dürfte hinreichend bekannt sein, dass das Fahren mit Sommerreifen im Winter Risiken birgt. Wer es dennoch macht, bleibt auf den Kosten der von ihm verursachten Schäden sitzen, da keine Versicherung für solchen Leichtsinn aufkommt. Das kommt de facto schon einer Winterreifenpflicht gleich, aber nun muss das auch noch gesetzlich verankert werden. Damit ließe sich ja zunächst einmal leben, aber nun wird die Geschichte wieder wachsweich gekocht: Die einfachste Lösung wäre ja gewesen, Winterreifen grundsätzlich von November bis März vorzuschreiben, aber nein, man darf auch in Zukunft im Januar mit Sommerreifen fahren, vorausgesetzt, die Straßen sind frei. Ob man bei plötzlich einsetzendem Schneefall das Auto stehen lassen muss, ist nicht geregelt. Und wer soll das kontrollieren? Schwärmt bei Schnee und Glatteis die Polizei in Scharen aus, um Reifensündern habhaft zu werden? Wo sie doch nicht einmal in der Lage ist, das bei Schulbussen zu überprüfen (für die Winterreifen längst verbindlich vorgeschrieben sind), wie Busunternehmer in Hinsicht auf die schwarzen Schafe ihrer Zunft beklagen? Also wieder ein überflüssiges Gesetz ohne echten Nutzen, dessen Entstehung bestimmt eine Menge Steuergelder gekostet hat.
Man könnte natürlich auf technische Lösungen setzen: Alle künftig ausgelieferten Reifen werden mit einem RFID-Chip ausgestattet, der eine Kennung des Reifentyps aussendet. Der Empfänger wird mit einer Radaranlage gekoppelt, die das Fahrzeug mit Bild erfasst. So werden mit den Temposündern auch gleich die Reifensünder geschnappt. Alles nur zur Sicherheit – und mit den (praktisch als Abfallprodukt) aufgezeichneten Bewegungsprofilen ließe sich die Terrorismusbekämpfung optimieren. Ich hoffe, ich habe da niemanden auf eine Idee gebracht...
Ein Sonderpreis für das Aktivieren des Mundwerks vor dem Einschalten des Gehirns gebührt sicherlich auch Verteidigungsminister Struck, der vorschlug, bei Übungen und Manövern Arbeitslose als Komparsen einzusetzen. Viel effektiver wäre es doch, sie als bewegliche Ziele zu verwenden; erstens könnte man die Bundeswehr damit erheblich realitätsbezogener auf ihre künftigen Aufgaben vorbereiten, zweitens wäre das Problem der Massenarbeitslosigkeit damit über kurz oder lang gelöst.

Die Furcht der Mächtigen
Zurück zur Angst von Politik und Wirtschaft, die Angst der Bürger könnte zu deren Unberechenbarkeit führen. Dass diese Angst existiert, zeigt die Aufregung um SPD-Chef Müntefering. Selbst die "Ratten und Schmeißfliegen" von Franz Josef Strauß hatten seinerzeit nicht für so viel Aufregung gesorgt wie nun aktuell die "Heuschrecken". Wenn ein Politiker Unternehmer (also natürliche Personen) mit Heuschrecken vergleicht, mag man meinetwegen darüber diskutieren, ob ein solcher Vergleich seine Wurzeln im Vokabular des Nationalsozialismus hat, aber was das Verhalten von Unternehmen (im Sinne von juristischen Personen) betrifft, sind die Parallelen schon frappierend: Wenn ein Konzern wie Coca-Cola, wie oben schon erwähnt, in Indien Brunnen bohrt, nimmt er in Kauf, dass das umliegende Land vertrocknet. Ist der Brunnen erschöpft, wird das Werk geschlossen und ein paar Kilometer weiter, wo es andere Quellen gibt, neu gebaut. Die Äcker im Umland, die zurückbleiben, sehen in der Tat so aus, als wären Heuschrecken über sie hergefallen. Dass Müntefering in der Sache nicht glaubwürdig ist, ist ein anderes Kapitel. Mit Sicherheit ging es ihm aber nicht darum, Menschen ihr Menschsein abzusprechen, wie der Historiker Wolffsohn unterstellte. Auch der Antisemitismus-Vorwurf wegen einer Liste mit Firmennamen, die als Beispiele für Anarcho-Kapitalismus dienen sollten, ist lächerlich: Zwei von zehn der aufgelisteten Firmen trügen einen jüdischen Namen. Damit solle unterschwellig angedeutet werden, dass das Kapital in der Hand des "Weltjudentums" sei. Oder 80 Prozent in der Hand von Mitgliedern anderer Glaubensgemeinschaften?
Der Unternehmensberater Roland Berger sprach die Ängste der Unternehmer vielleicht am ehrlichsten aus: "Wenn Unternehmenspersönlichkeiten öffentlich verurteilt werden, muss man sich nicht wundern, wenn irgendwelche Verrückten schließlich RAF spielen." Ob mit diesem Appell zur Mäßigung aber auch Guido Westerwelle gemeint ist, bleibt offen. Der hatte die Gewerkschaftsfunktionäre als "die wahre Plage in Deutschland" bezeichnet und angekündigt, nach einem Wahlsieg die Gewerkschaften entmachten zu wollen, notfalls unter Inkaufnahme von Massenprotesten. Und dann? Gleichschalten? Die Funktionäre ins Gefängnis werfen? Wo bleibt der Aufschrei von Wolffsohn?
Immerhin, wenn die Gewerkschafter aus dem Verkehr gezogen sind, können die Arbeitgeber endlich ungestört ihre Ideen in die Tat umsetzen – zum Beispiel Lohnkürzung oder Streichung von Urlaubstagen bei Krankheit. Das kommt bestimmt vor allem bei Arbeitsunfällen gut: Wer so blöde ist und sich vom Gabelstapler überfahren lässt, sollte auch nicht meckern, wenn man ihm zwanzig Prozent vom Lohn abzieht!

Erziehung zur Schizophrenie
Widersprüche, wo man nur hinschaut: Sichert die Gesundheit der Bürger! Jeder Diesel ohne Rußfilter lässt Dutzende von Passanten tot am Straßenrand zusammenbrechen! Freilich sollte getan werden, was Stand der Technik ist, um die Luft zu verbessern. Lassen wir mal beiseite, dass dies der Industrie vollkommen egal ist, sonst würde beispielsweise VW die Rußfilter, die auf Halde produziert werden, verkaufen, statt auf staatliche Beschlüsse zu warten. Betrachten wir lieber mal die Tatsachen: Die Luft in Deutschland ist so sauber wie schon lange nicht mehr. Vor 40 Jahren wogten noch rund 40 Millionen Tonnen Feinstaub durch die Republik, heute sind es noch fünf Prozent davon. Vor 40 Jahren wurden die Leute vielleicht 70 Jahre alt (womit sie im Durchschnitt fünf Jahre lang in den Genuss ihrer Rente kamen). Verstand man damals unter einem Rentner einen Tattergreis, der sich mithilfe eines Stocks mühsam den Gehweg entlangschleppte, wimmelt es heute nur so von dynamischen Siebzigjährigen, die regelmäßig nach Mallorca pendeln, Sport treiben oder nach Rolling-Stones-Konzerten lästern, dass Mick Jagger 1965 erheblich besser in Form gewesen sei.
Wie gesagt: Ein Risiko, das nach dem Stand der Technik vermieden werden kann, sollte man auch vermeiden! Aber in jüngster Zeit bricht regelmäßig bei Debatten, in denen es um "Schutz vor..." oder "Sicherheit vor..." geht, eine gewaltige Hysterie aus.
Ist es nicht verrückt? Da beklagt man sich, dass die Menschen immer älter werden und daher das Rentensystem zusammenbräche. Gleichzeitig wird die Tabakindustrie an den Pranger gestellt, weil ihre Produkte das Leben ihrer Konsumenten verkürzen. Also, was denn nun? Aus irgend einem Grunde fällt mir dazu ein Artikel ein, der kürzlich bei telepolis erschienen war: In den USA hatte man die ungeheuerliche Feststellung gemacht, dass Männer in Peepshows onanieren. Um diese Perversion zu verhindern, sollen die Kabinen künftig mit Kameras überwacht werden. Das Bild wird auf einen Monitor nach draußen übertragen. Das ist ungemein praktisch, dann kann man die Übeltäter nämlich wegen Exhibitionismus dingfest machen. Aber das nur am Rande...
Diejenigen, die der Gesellschaft eine "Vollkaskomentalität" vorwerfen, sind interessanterweise dieselben, die permanent "Sicherheit" propagieren – allerdings immer nur in dem Zusammenhang, der Politik und Wirtschaft in den Kram passt. So erzieht man zur Schizophrenie.
Es gibt keine "absolute" Sicherheit. Betrachten wir doch einmal das Szenario einer Gesellschaft, in der Sicherheit oberste Priorität hat: Autos werden nur noch mit kompletter Sicherheitsausstattung zugelassen: Airbags rundum, ABS, ESP und was es sonst noch an technischen Kürzeln gibt, die Höchstgeschwindigkeit ist elektronisch auf 100 Stundenkilometer begrenzt (übrigens beklagen Feuerwehren, dass es immer schwieriger sei, nach schweren Unfällen Verletzte aus ihren Hochsicherheitsautos zu bergen – auch so ein Widerspruch). Fraglich ist, ob wegen der zu erwartenden Steuerausfälle das Rauchen verboten wird, aber man könnte das ja so regeln, dass Raucher für typische Raucherkrankheiten selbst aufkommen müssen. Zumindest wird der Kauf von Tabakwaren auf der Krankenkassenkarte gespeichert, ebenso der Kauf von Alkoholika, die dann aber ohnehin nur noch maximal zehn Prozent Alkohol enthalten dürfen. Das gilt natürlich auch bei cholesterinhaltigen Lebensmitteln; beim Betreten einer Pizzeria wird zuerst der auf der Chipkarte eingetragene letzte Untersuchungswert abgerufen; im Zweifelsfalle wird dem Gast nur Salat serviert – es ist ja nur zu seinem Besten!
Wegen der Unfallgefahr werden etliche Wanderwege im Schwarzwald gesperrt und dürfen nur noch mit einem in Erster Hilfe ausgebildeten Führer betreten werden. In Privathaushalten dürfen nur noch Leitern mit maximal drei Sprossen verwendet werden, die zudem ein Geländer haben. Kinder dürfen nur noch auf zertifizierten Spielplätzen spielen, deren Klettergeräte nicht höher als einen Meter sein dürfen. Das Erklettern von Bäumen wird aus Sicherheitsgründen gesetzlich verboten. Für alle herrscht eine Impfpflicht gegen Tetanus, Hepatitis, Röteln und Grippe. Die Verwendung von Kondomen wird grundsätzlich zur Pflicht; zur Zeugung von Nachwuchs brauchen beide Partner eine amtsärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung, die den temporären ungeschützten Verkehr bis zum Eintreten einer Schwangerschaft gestattet; allerdings wird eine Gesetzesreform künftig die künstliche Befruchtung präferieren. Ob das Leben in solch einem Land noch lebenswert wäre?
Solche Restriktionen müssen natürlich auch konsequent überwacht werden, sonst würde der Bürger womöglich auf Schritt und Tritt gegen Gesetze und Vorschriften verstoßen. Bezahlt würden die Überwacher natürlich von den Überwachten. Ein non-fiction-Beispiel gefällig? – Seit es in Deutschland kein Bankgeheimnis mehr gibt, werden laut Schätzungen des Bundesverbandes deutscher Banken täglich über 2.000 Konten überprüft, mittelfristig sei eine Steigerung auf über 5.000 Abfragen möglich. Der Mehraufwand für die Banken für Technik und Personal wird auf ca. 100 Millionen Euro veranschlagt – und diese Summe holen sich die Banken natürlich von den Kunden wieder zurück.

Noch mehr Widersprüche und Merkwürdigkeiten...
Noch ein paar Gemeinheiten gefällig? Die Gegner von Windkraftanlagen verweisen auf Funde von toten Fledermäusen unter den Rotoren. Aber keiner von ihnen spricht von toten Fischen in Wasserkraftanlagen, den Folgen des Schadstoffausstoßes von Kohlekraftwerken... es gibt keine Technik, die nicht in irgendeiner Weise negative Folgen hat. Wie viele Tiere sind bei Waldbränden gestorben, die durch steinzeitliche Lagerfeuer entstanden sind? Selbst wenn wir Strom völlig ökologisch erzeugen, werden auch künftig Großvögel, deren Spannweite länger ist als die Isolierungen, an Hochspannungsmasten verbrennen. Jeder, aber auch wirklich jeder technische Fortschritt beinhaltet ein mehr oder weniger großes Risiko. Und wo ist das Gefahrenpotenzial denn größer? Bei einer Windkraftanlage oder bei einem Atomkraftwerk? Wie viele Fledermäuse sind in Harrisburg, Sellafield und Tschernobyl verstrahlt worden?
Auch der Mensch wurde immer wieder Opfer seines eigenen Erfindergeistes. Kaum gab es eine größere Anzahl Autos, gab es schon die ersten Verkehrstoten zu beklagen. Immerhin werden heute dafür kaum noch Menschen von Kutschen überrollt oder von Pferden totgetrampelt. Natürlich sind heute viel mehr Menschen von Verkehrsunfällen betroffen – was natürlich einerseits mit der gestiegenen Mobilität, andererseits auch schlicht damit zusammenhängt, dass es mehr Menschen gibt. Der Mensch erfand mehrstöckige Häuser – und schon brachen sich die ersten bei Treppenstürzen das Genick. Anstatt aber nun die Treppen zu verbieten, erfand man das Geländer.
Ausgerechnet da aber, wo man gerne etwas mehr Sicherheit hätte, gibt es keine: Bei den Arbeitsplätzen, bei der Familienplanung, im Alter – also bei den wirklich existenziellen Dingen des Lebens. Wie gesagt: schizophren.
Es gibt noch viele Merkwürdigkeiten zu beobachten. Oft nur winzige, fast nebensächliche Kleinigkeiten, die aber erstaunlich gut in das Bild einer sich verändernden Gesellschaft passen, die darauf hinweisen, dass dieses Land nicht mehr dasselbe ist wie das, in dem meine Generation aufgewachsen ist. Man achte einmal auf solche kleinen Details: Rasierklingen sind in den letzten Jahren enorm teuer geworden. Ob nun der Euro daran Schuld hat oder die Chinesen, die gigantische Mengen hochwertigen Stahls kaufen, sei dahingestellt. Eine Zehnerpackung Rasierklingen, die vor gar nicht langer Zeit zehn bis zwölf Mark gekostet hatte, hängt nun für unverschämte zehn Euro im Regal. Beziehungsweise, da hängt sie nicht mehr, und das ist das eigentlich Bemerkenswerte: Ein Hinweisschild bittet den Kunden, die Ware direkt an der Kasse zu erstehen – offenbar sind so viele Rasierklingen im Supermarkt gestohlen worden, dass man sie der direkten Obhut der Kassiererinnen übergeben musste. Nimmt die Armut ebenso wie die Preissteigerungen weiter zu, werden wir dereinst also ziemlich sicher sagen können, wo der Anfang vom Ende des Selbstbedienungskonzeptes zu finden war. Um lange Schlangen nach DDR-Vorbild zu vermeiden, müsste das Personal erheblich aufgestockt werden; grob geschätzt bräuchte ein durchschnittlicher Supermarkt dann sicher um die dreißig Verkäufer. Das würde immerhin die Arbeitslosenquote erheblich senken.

...in einem veränderten Land
Dieses Land ist tatsächlich nicht mehr dasselbe. Geografisch nicht mehr seit der Wiedervereinigung, sprachlich nicht mehr seit der Rechtschreibreform. Die (auch im Ausland) vielgerühmte soziale Marktwirtschaft ist Geschichte. "Made in Germany" ist kein Gütesiegel mehr und als Herkunftsbezeichnung ohnehin ein Witz; deutsch ist allenfalls noch der Firmenname, der Großteil der (nicht wenigen) in meinem Haushalt befindlichen "deutschen Markengeräte" wurde zumindest in Teilen, wenn nicht komplett, in Billiglohnländern produziert.
War ein Nazi früher ein altersgebeugter SS-Offizier, der bei Kameradschaftstreffen zittrig aus Führerreden zitierte, ist er heute dynamisch und smart wie einst Albert Speer – und ordentlich gewähltes Mitglied eines Landtages.
Wir haben nicht mehr das gleiche Geld.
Wir verlieren unsere Bürgerrechte.
Nicht einmal die vertrauten 220 Volt kommen aus der Steckdose, seit europaweit auf eine Spannung von 230 Volt umgestellt wurde.
Womit soll man sich im Zeitalter des globalen Umbruchs noch identifizieren? Es ist jedenfalls kein Wunder, dass sich in einem Land, das sich Begriffe wie "Nationalstolz" und "Vaterlandsliebe" aus dem Vokabular gestrichen hatte (mit Ausnahme jener oben erwähnten Landtagsabgeordneten und ihrer Wähler), der Regionalismus ausbreitet (was eine große Anzahl von Regionalwährungsprojekten belegt) – gewissermaßen der "Rückzug ins Private" im etwas größeren Maßstab, oder, anders formuliert, die geistige Gegenbewegung zur Globalisierung. Dass übrigens das Wort "National" im Gegensatz zu "Potential/Potenzial" nicht der Rechtschreibreform zum Opfer fiel, liegt wohl daran, dass "Nazional" irgendwie peinlich aussieht.

Kraftaufwand für Bagatellen
Man sollte nicht glauben, es sei eine spezifische Eigenart von Politikern, ihre Kraft an kleine, im Grunde leicht lösbare Probleme zu vergeuden, statt sie für die wirklich großen Probleme einzusetzen: es scheint inzwischen auch auf die übrige Bevölkerung abzufärben. Zum Beispiel in Leserzuschriften an Tageszeitungen, wenn ein Artikel zur globalen Problematik des Trinkwassers kommentiert wird: Da schlägt ein Leser ernsthaft vor, die beliebten Pumpen auf Kinderspielplätzen stillzulegen. Dass diese paar Liter in einem mit sauberem Trinkwasser ohnehin gesegneten Land global gesehen nicht viel bewirken werden, ist die eine Sache. Die andere ist die, dass jeder Haushalt hektoliterweise bestes Trinkwasser zur Toilettenspülung benutzt, was ja nun wirklich keinen Sinn macht. Aber genau diese Denkweise reflektiert diejenige der Politiker: Es wird nichts zu Ende gedacht, der erstbeste Aspekt wird aufgegriffen und in einem Anfall von Aktionismus als Kern des Problems hingestellt. Wieso noch mühsam sachkundig machen? Mit Sachlichkeit gewinnt man keine Wahlen. Die Menschen müssen medienwirksam angesprochen werden, man muss emotional sein, um Emotionen auszulösen. Zu sagen haben muss man dabei nichts, Inszenierung ist alles. Funktioniert hatte diese Methode übrigens auch schon 1933 – Charlie Chaplin hatte das mit seinem "Schtonk"-Gebrülle in seinem Meisterwerk "Der große Diktator" virtuos entlarvt. Nebenbei enthüllt der obige Brief offensichtlich auch die Prioritäten des Schreibers: Toiletten sind wichtiger als Kinder, sonst hätte er für Spartasten an der Spülung plädiert. Dass er mit dieser Meinung nicht alleine steht, weiß man als Familienvater.

Die schizophrene Gesellschaft
Die gesellschaftliche Schizophrenie ist für einen Verstand, der die Situation rational zu analysieren versucht, vielleicht der einzige Ausweg aus der allgegenwärtigen Verwirrung – ein Psychologe könnte da sicher einiges dazu sagen. Der Einzelne fühlt sich machtlos und ausgeliefert. Ein Beispiel: Um in der westlichen Gesellschaft (über-)leben zu können (und dabei muss es sich nicht einmal um Wohlstand handeln), muss der Schornstein rauchen, es muss möglichst viel produziert und konsumiert werden. Dabei ist jedem rein verstandesgemäß klar, dass es hierbei ökologisch bedingte Grenzen geben muss. Dennoch muss man mitmachen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Um dem Gewissenskonflikt angesichts der Umwelt- und Ressourcensituation zu entgehen, bleibt nur die Persönlichkeitsspaltung: Einerseits ist man Teil des Produktions- und Konsumprozesses, andererseits ist man ganz "öko". Man sortiert den Müll und vermeidet Plastiktüten im Supermarkt, und natürlich fährt man ein verbrauchsarmes Auto, wobei man geflissentlich übersieht, dass das Fahrzeug ohne Klimaanlage, elektrische Fensterheber, Sitzheizung, elektrische Spiegelverstellung, elektrisches Schiebedach, automatische Sitzanpassung, Automatikgetriebe und Navigationsgerät nochmal über einen Liter weniger benötigen würde. Aber die Zusatzausstattung hat vermutlich die andere Persönlichkeit gekauft.
Das Bild der gespaltenen Persönlichkeit passt perfekt auch zur "neuen" Bundesrepublik seit 1990: Hier die Wessis, da die Ossis. Aber Schizophrenie soll ja in vielen Fällen heilbar sein. Inzwischen trösten wir uns damit, dass wir das Pflegepersonal spätestens alle vier Jahre austauschen dürfen. Die Sache hat indes einen Haken: An der Politik ändert sich wenig. Was also tun?

Die Wahl der Qual
"Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen, welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen", sang Rio Reiser einst bei Ton Steine Scherben. Also gar nicht mehr wählen? Immerhin ging die Beteiligung bei Bundestagswahlen seit 1972 von 91 auf 79 Prozent zurück. Aber der Haken dabei: Für die Anzahl der Sitze ist nicht die absolute Stimmenzahl entscheidend, sondern das Verhältnis. Aufs Gröbste vereinfacht hieße das: Angenommen, es gäbe bei den nächsten Bundestagswahlen einen riesigen Boykott und nur drei Leute gingen wählen, von denen zwei für die FDP stimmten – Westerwelle würde in Schampus baden!
Und überhaupt: Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Sagten schon die alten Römer. Das sehen wohl auch die knapp eine Million aktiven Nichtwähler so: Sie gehen zur Wahl, um in der Kabine ihre Stimmzettel ungültig machen. Ein paar tausend ungültiger Stimmen könnte man sicher mit dem Unvermögen der Leute erklären, einen Stimmzettel vernünftig auszufüllen, aber ab einer gewissen Größenordnung sollte man schon nachdenklich werden. Man könnte zum Besipiel auf die Idee kommen, dass sich immer mehr Menschen von den Parteien nicht mehr angemessen repräsentiert fühlen, weshalb sie den Volksvertretern ihre Legitimation verweigern. Netter Nebeneffekt: Die Parteien bekommen nur Geld für gültige Stimmen...
Es ist unbestreitbar, dass die derzeitige Regierung eine Politik vertritt, von der ein ohnehin schon privilegierter Teil der Bevölkerung profitiert, während der Rest zunehmend Nachteile in Kauf nehmen muss (was sich mit einem Regierungswechsel natürlich nicht ändern wird – eher im Gegenteil). Daher ist es auch immer weniger im Interesse dieser Politik, dass der Bürger mitentscheidet – siehe die vielfach geforderte Abstimmung über die EU-Verfassung. Die Diskrepanz zwischen Wählerwillen und Entscheidungen der angeblichen Volksvertreter ist unübersehbar und wird noch größer. Beispiel Niederlande: 80 Prozent der Parlamentarier befürworteten die EU-Verfassung, aber 60 Prozent der Wähler waren dagegen. Ähnlich dürften die Verhältnisse in Deutschland liegen.
Wieso überhaupt noch wählen, wenn die Politik in existenziellen Fragen ohnehin Outsourcing betreibt? Wie bei Hartz IV, wo ein Wirtschaftsboss der Kommission vorsteht, der in erster Linie seinen Aktionären gegenüber verantwortlich ist. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die Inhalte von Hartz IV, sondern darum, dass demokratische Entscheidungsprozesse zunehmend in nicht demokratisch legitimierte Kommissionen verschoben werden, wir also ein wachsendes Demokratiedefizit beobachten können.

Ende der Fahnenstange
Wie zu Beginn schon angedeutet, dringt noch ein weiterer Angstfaktor ins gesellschaftliche Denken, nämlich das Bewusstsein, dass das Ende der Fahnenstange in Reichweite rückt, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher – auch wenn die Wirtschaft stur die gegenteilige Meinung vertritt. Möglicherweise wurde Peak Oil – also das Ölfördermaximum – bereits erreicht oder wir stehen ganz kurz davor. Wir merken das spätestens an der Tankstelle oder wenn der nette Mann mit dem Heizöllaster kommt. Über 60 Dollar für ein Barrel Rohöl – und ein Ende des Preisanstiegs ist nicht in Sicht. Ein Indiz für Peak Oil gefällig? Offiziell wollen die erdölexportierenden Länder die Förderquote nicht erhöhen. Das könnte preispolitische Gründe haben. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie die Förderquote nicht erhöhen können. Betrachten wir einmal den anderen Grund, weshalb die Preise steigen: Die Raffinerie- und Transportkapazitäten sind voll ausgeschöpft. Es kann daher nicht soviel Rohöl in Endprodukte umgewandelt werden, wie der Markt verlangt. Das führt zu einer Verknappung und somit – entsprechend der Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage – dazu, dass an der Tankstelle ein Liter Diesel derzeit 1,10 Euro kostet. Nun sollte man meinen, dass die Mineralölindustrie der zu erwartenden steigenden Nachfrage Rechnung getragen hätte, nicht zuletzt mit Blick auf die Schwellenländer. Und es sollte in den Chefetagen bekannt sein, dass sich Öltanker, Pipelines und Raffinerien nicht in zwei Wochen aus dem Boden stampfen lassen. Weshalb also hat die Industrie nicht auf die allseits bekannte Entwicklung reagiert und in entsprechende Kapazitäten investiert? Vielleicht, weil es sich nicht mehr lohnt? Was wissen die Bosse von Exxon, Elf Aquitaine, Shell und wie sie alle heißen, wovon wir nichts wissen (sollen)? Ein paar Zitate: "Die Erdöl-Produktionsspitze steht unmittelbar bevor, sie kommt nicht erst in einigen Jahren. Wenn ich recht habe, sind die Konsequenzen verheerend." (Matthew R. Simmons, ehemaliger Berater der Bush-Regierung) - "Die letzten Tage des Ölzeitalters haben begonnen." (Mike Bowlin, Generaldirektor von US-Ölkonzern ARCO). Während ich diese Zeilen schrieb, warf ich einen Blick in die Nachrichtenübersicht und stieß auf diese Überschrift: "Experten halten 2015 Ölpreis von 380 Dollar je Barrel für möglich". Aber schon für die nächste Zeit halten Analysten Preise von 75 Dollar je Barrel für denkbar. Na, dann mal schöne Grüße an unsere Wirtschaft... von solchen vom Öl abhängigen Bagatellen wie der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten mal ganz abgesehen. Mit der Stromversorgung könnte es auch schwierig werden – und ohne Strom bricht auch die Kommunikation zusammen.
Der Verlust billigen Öls würde die Landwirtschaft auf den Stand früherer Jahrhunderte zurückwerfen – und das, wo gleichzeitig immer größere, ehemals fruchtbare Gebiete versteppen. Ende des 20. Jahrhunderts sank übrigens nach vielen Jahren der Steigerung die globale landwirtschaftliche Produktion, verringerten sich die weltweiten Nahrungsreserven.
Sechs Milliarden sind wir derzeit, und rund zwei Milliarden Inder und Chinesen hätten auch gerne ein Stück vom Kuchen ab: Autos, Kühlschränke, Klimaanlagen – da ist das ökologische Desaster vorprogrammiert. Vernünftigerweise müssten wir sagen "Sorry, Freunde und Nachbarn, Kuchen ist nicht, wir haben schon zuviel davon gehabt." Tja, sollen wir Streichhölzer ziehen, wer das den Leuten dort beibringt? Und überhaupt, wenn VW oder DaimlerChrysler keine Werke in Chingkiang oder Jabalpur errichten um ein paar Millionen Autos verkaufen können, müssen bei uns die Leute auf die Straße gesetzt werden. Was uns allerdings Arbeitsplätze noch nützen, wenn Indien und China unseren Motorisierungsstand erreicht haben, konnte mir auch noch niemand plausibel erklären. Andererseits – vielleicht kommt es gar nicht mehr in diesem Umfang dazu, weil vorher das Öl ausgeht...
Das Wohlstandsniveau, das die Generation meiner Eltern erreicht hat, scheint der Höhepunkt gewesen zu sein. Wovon meine Generation im Alter leben soll, steht in den Sternen. Ebenso, wie Deutschland (und das durchaus nicht als einziges Land) jemals den Schuldenberg von derzeit 1,4 Billionen Euro abtragen soll. Eine ehrliche Antwort darauf müsste lauten: "Nie!"
Ein weiteres Indiz für das nahe Ende der Fahnenstange ist das Verhalten der Besitzenden (gemeinhin auch "Kapitalisten" genannt) – der schrankenlose Neoliberalismus gleicht einem letzten "schnell noch holen, was irgendwie zu holen ist". Bei einem Verhalten, das man in Anbetracht der ökologischen Perspektive guten Gewissens als "über Leichen gehen" bezeichnen kann, sollte man meinen, es müsste die Leute in Scharen auf die Straße treiben, um dem Einhalt zu gebieten. Tut aber keiner. Interessiert das keinen? Oder lautet die Devise "Kopf unten halten, vielleicht wird's nicht ganz so schlimm!"? Ist es schlicht und einfach die Angst, die lähmt? Verdrängung?

Fluchtverhalten
Angst macht hilflos, Angst vermindert die Produktivität, Angst vermindert die Kreativität. Und die Liste dessen, was uns Angst und Unsicherheit einzuflößen vermag, ist lang: Verlust des Arbeitsplatzes, sinkende Qualität der medizinischen Versorgung, finanzielle Unwägbarkeiten im Alter, der schleichende Demokratieverlust, staatliche Überwachung, die Verquickung von Politik und Wirtschaft (die schwindende Macht bei Ersterer und zunehmende Macht bei Letzterer bewirkt), die steigenden Lebenshaltungskosten bei gleichzeitigem Zwang zu Lohnverzicht, völlig unerwartete und/oder unkalkulierbare Gesetzesänderungen wie z.B. die EU-Dienstleistungsrichtlinie oder die Neuregelung der Kfz-Steuer, die Angst vor dem Verlust von Besitz und sozialem Umfeld durch Hartz IV, die klimatisch bedingte Zunahme von Unwetterkatastrophen, das rapide Schwinden von Ressourcen, die steigende Akzeptanz von Kriegen als Fortsetzung der Politik, die mit einer Zunahme der Hautkrebsrate verbundene Zerstörung der Ozonschicht, die Gefahr sich durch den internationalen Reise- und Geschäftsverkehr ausbreitender Krankheiten wie AIDS oder der Vogelgrippe, der Terrorismus mitsamt der Reaktionen darauf – all das zu den "normalen" Problemen, die ohnehin die meisten mit sich herumschleppen.
Angst sorgt für negativen Stress und Ausweichverhalten wie der Flucht in Scheinwelten – gerade auch bei Kindern und Jugendlichen lässt sich das beobachten: Dauerfernsehen, übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum, zunehmende Aggression, psychische Störungen – wen mag das noch wundern?
Es erstaunt nicht, dass jetzt der große Kampf gegen die Symptome beginnt, gegen all das, was angeblich oder tatsächlich (nicht nur die Jugend) verdirbt: Restriktive Rauchverbote, hohe Besteuerung bestimmter Alkoholika (zu meiner Zeit hieß die Einstiegsdroge noch Eierlikör) und Tabakwaren, Zensur von Internetangeboten (mal ganz langsam zum Mitschreiben für unsere Polit-Profis: Wenn ich versuche, einer bestimmten Gruppe in unserer Gesellschaft Fesseln anzulegen, fessle ich zwangsläufig einen anderen Teil mit); manche Ideen gemahnen unangenehm an die "zero-tolerance"-Politik amerikanischer Schulen.
Ursachenforschung? Was für Ursachen? Wenn jemand in unserer Gesellschaft nicht mehr funktioniert, ist er selbst Schuld. Äußere Ursachen gibt es keine. Basta.
Übrigens sind inzwischen selbst Computerzeitschriften gezwungen, bei jeder beigelegten Shareware-CD darauf hinzuweisen, dass sie keine jugendgefährdenden Inhalte enthält, um nicht auf dem Index zu landen. Kein Witz: Ohne diesen Hinweis dürfte man Fachzeitschriften wie Macwelt oder c't erst ab 18 kaufen! Ja, da haben wir wirklich ernsthafte Probleme in unserem Land!

Keine Lösungen
Welcher Politiker hat es bisher gewagt, all diese reichlich unangenehmen Tatsachen auszusprechen? Einer hat es andeutungsweise mal versucht, das war der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, der vor den Folgen von Peak Oil gewarnt hatte (die USA hatten das Ölfördermaximum bereits 1970 erreicht) und entsprechende Gegenmaßnahmen in seiner zweiten Amtszeit in Angriff nehmen wollte. Vermutlich war genau das einer der Gründe, weshalb er nicht wiedergewählt wurde. Auch wenn unsere Politiker im Allgemeinen zu einem äußerst schlechten Langzeitgedächtnis neigen – das scheinen sie sich gemerkt zu haben. Also erzählen sie uns munter weiter, dass ein kräftiges Wirtschaftswachstum alle unsere Probleme lösen wird – obwohl es zu den Hauptursachen unserer Probleme gehört, dass wir über Jahrzehnte ein Wachstum hatten. Die ebenfalls sehr beliebten Beschwörungen eines Wachstums in Verbindung mit kommenden technischen Entwicklungen, die dessen Auswirkungen mildern würden, klingen indes wie die Unterhaltungen, die in manchen Luftschutzkellern im April 1945 geführt wurden: "Bald setzt der Führer seine neuen Wunderwaffen ein, dann gewinnen wir den Krieg und alles wird gut!"
Wo bleiben sie denn, die Wunderwaffen, die uns vom Öl unabhängig machen? VW hat zwar alibihalber einen (völlig familienuntauglichen) Kleinwagen, der mit drei Litern Sprit auskommt, konzentriert die Konzernenergie ansonsten aber lieber auf Projekte wie den Phaeton mit einem Verbrauch von 14,5 Litern (Werksangabe). DaimlerChrysler ist zuversichtlich, ein serienreifes Brennstoffzellenauto bereits 2015 auf den Markt bringen zu können, schweigt sich aber dazu aus, woher die Energie zur Wasserstoffherstellung kommen soll. Zu diesem Zeitpunkt dürfte der Ölpreis selbst unter optimistischen Annahmen im dreistelligen Bereich liegen. Alternative Energieerzeugung wird nach der nächsten Wahl voraussichtlich weiter weg vom Mainstream sein, als uns lieb sein kann, hatte Angela Merkel doch schon eine Renaissance der ach so billigen Atomkraft angekündigt. Wirtschaftliche Auswege, wie sie schon Silvio Gesell vor hundert Jahren aufzeigte, werden von heutigen Politikern ignoriert – falls sie den Namen Gesell überhaupt schon einmal gehört haben. Business as usual. Stur geradeaus ohne Ideen, ohne Visionen, ohne Perspektiven. Was zählt, ist Machterhalt und Shareholder Value, und beides ist nur durch den Status quo gewährleistet. Mit anderen Worten: Heute stehen wir am Rande eines Abgrunds, aber Morgen werden wir schon einen Schritt weiter sein.

Dilemma
Wie verhalte ich mich als Vater meinen Kindern gegenüber? Verheimliche ich ihnen die Ängste, die auch mich umtreiben, die mich öfter nachts stundenlang die Ziffern des Projektionsweckers an der Decke beobachten lassen? Und lasse sie selbst herausfinden, wie es um die Welt, in die sie von ihren Eltern gesetzt wurden, steht? Und riskiere es, unglaubwürdig zu werden? Oder lasse ich meine Kinder von meinen Sorgen wissen und riskiere es, diese zu übertragen?
Man sollte sich vor Augen halten, dass mit unseren Kindern wahrscheinlich die letzte Generation aufwächst, die das Ruder noch herumzureißen vermag. Das müsste ein gewaltiger Anreiz sein, alles, was nur geht, in Bildung und Wohlergehen unserer Kinder zu investieren. Was wir angesichts der drohenden Probleme brauchen, sind Kinder, die ihre Kreativität voll entfalten können, auch unangepasste Querdenker. Nur ist leider unsere Erziehung, unser Bildungswesen, die Wirtschaft – im Grunde nahezu jeder gesellschaftliche Bereich – darauf aus, angepasste, "funktionierende" Menschen heranzuzüchten, die das System möglichst nicht in Frage stellen.
In Hinblick auf das, was auf die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten zukommt, kann man nur hoffen, dass diese Erziehung zur Anpassung, zum "Funktionieren", versagt. Denn wenn wir überleben wollen, müssen Veränderungen auch da stattfinden, wo sie heute noch mit allen Kräften verhindert werden – bis hin zu den Medien und den Währungssystemen.

29_6_05

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