© Eric Fricke
Die Welt befindet
sich im Umbruch. Die gesellschaftlichen Veränderungen halten Einzug in
alle Lebensbereiche. Spürbar ist das insbesondere in der so genannten "westlichen
Welt", bedingt durch die bessere technische Ausstattung Stichwort
"Kommunikation". Ob man diesbezüglich von "Bevorzugung"
sprechen kann, ob sich dieser Vorsprung in gesellschaftlicher Hinsicht als Segen
erweisen wird, muss sich erst einmal zeigen. Als Nutznießer dieser Entwicklung
möchte ich nun keinesfalls Maschinen stürmen, aber bekanntlich hat
jede Medaille auch ihre Kehrseite.
Wenn Historiker eines Tages auf unsere Zeit zurückblicken werden, werden
sie möglicherweise von einem von Ängsten geprägten Zeitalter
sprechen. Wir erinnern uns: Als das magische Jahr 2000 am Horizont erschien,
wurde uns bewusst, wie sehr wir von der Technik abhängen. Ein Speicherproblem
bei alter Software führte dazu, dass die Jahreszahl nicht vollständig
erkannt wurde. Für die betreffenden Rechner kam nach "99" nicht
"2000", sondern "00". So hätten zum Beispiel die Überwachungssysteme
von Interkontinentalraketen dies dahingehend interpretieren können, dass
seit einem Jahrhundert kein Kontakt mehr zu den Kontrollstationen bestand, worauf
ein selbsttätiger Start möglich gewesen wäre. Hunderttausende
von Programmierern, teilweise bereits im Ruhestand, lösten das Problem,
sodass der Jahreswechsel relativ reibungslos vonstatten ging bis auf
Kleinigkeiten wie Einschulungsbescheide für 107-jährige, aber auch
Ernsthafteres wie das Herunterfahren eines japanischen Atomkraftwerks.
Vieles wurde im Nachhinein als Hysterie interpretiert, es gab Vergleiche mit
dem Jahr 1000, wo viele Menschen aus Angst vor einer neuen Sintflut in die Berge
geflohen waren. Natürlich hinkte dieser Vergleich, da das Jahr-2000-Problem
tatsächlich existierte, aber die zunehmende Unruhe der Menschen um die
Jahrtausendwende bezog sich nicht ausschließlich auf Computerprobleme.
Vielleicht hatten viele erkannt, dass tatsächlich eine Schwelle überschritten
wurde. Die großen Menschheitsprobleme waren ungelöst, aber das 20.
Jahrhundert war überstanden, ohne dass es zur finalen Katastrophe gekommen
war. Jetzt war klar, dass die Probleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelöst
werden müssen ohne zu wissen, wie. Zeitgleich begann mit dem Zusammenbruch
des Ostblocks eine Wiederkehr des ungezügelten Kapitalismus, zu dem es
scheinbar keine Alternative gibt. Ebenso verheerend auf die kollektive
Psyche wirkten sich die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon
aus. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts verlor vieles von dem, an was wir geglaubt
hatten, an Gültigkeit.
Alles fließt...
Die technische Entwicklung so sie in Silicon Valley und nicht in Detroit
oder Wolfsburg stattfand verlief in den letzten zwanzig Jahren ebenso
rasant wie ihr Preisverfall. Ein Beispiel: Bei einem Buchprojekt, an dem ich
gestalterisch mitarbeitete, sammelten sich nach dem Scannen über zehn Gigabyte
an Bilddaten an. Kein Problem, da diese Daten lediglich einen Bruchteil meiner
Speicherkapazitäten belegen. Festplatten in solchen Größenordnungen
bekommt man heute für wenig Geld im Supermarkt um die Ecke. Anfang der
Achtzigerjahre kostete eine externe Apple-Festplatte mit einer Kapazität
von zehn Megabyte(!) rund 10.000 Mark. Gälten diese Preisverhältnisse
heute noch, hätte ich vor der Annahme des Auftrags erst einmal rund fünf
Millionen Euro in Speichermedien investieren müssen.
Heute ist jeder in der Lage, sich Rechnerleistungen ins Wohnzimmer zu stellen,
von denen die NASA zu Zeiten der Mondflüge nicht einmal zu träumen
wagte. Dass damit nicht das eigentlich nötige Fachwissen, zum Beispiel
zur Gestaltung von Drucksachen, mitgekauft wird, übersehen indes die meisten
zum Leidwesen einer ganzen Branche, deren hoch qualifizierte Fachkräfte
angesichts der typografischen, gestalterischen und technischen Mängel unzähliger
Do-it-yourself-Flyer eigentlich ständig mit den Tränen kämpfen
müssten. Vom Verlust des Arbeitsplatzes ganz abgesehen.
Aber die Technik ist nur ein Aspekt von vielen. Man muss dabei gar nicht so
weit gehen wie einige Wissenschaftler, die spekulieren, dass sich in den letzten
30 Jahren die Gehirne der Menschen, die etwa seit Beginn der Siebzigerjahre
des 20. Jahrhunderts zur Welt kamen, verändert hätten. Alleine das
gestiegene Bewusstsein, dass nichts von Dauer ist, genügt, um tiefgreifende
Änderungen in der kollektiven Psyche auszulösen.
Noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt es als gesichert, dass das Universum
statisch sei. Selbst Einstein tat sich schwer mit dem Gedanken an ein veränderliches
Weltall. Logisch, dass der vermeintlich feste Boden, auf dem wir stehen, keine
Ausnahme macht. In von menschlichen Sinnen nicht erfassbaren Zeiträumen
verändert sich die Erde; wo früher ein Meer wogte, steht heute ein
Gebirge, wo einst Brontosaurier unter Palmen grasten, liegt heute Eis. Den Begriff
"ewiges Eis" kann man sich freilich abschminken: Panta rhei
alles fließt.
Man mochte sich vielleicht mit einer sich stetig verändernden Erde abfinden,
aber die Forschungsergebnisse des vergangenen Jahrhunderts konnten nicht dazu
beitragen, dass man sich angesichts der geologischen Zeiträume, die ja
für den Menschen nahezu "ewig" sind, beruhigen konnte: Unzählige
Katastrophen hatten in der Erdgeschichte stattgefunden, und man fand keinerlei
tröstenden Hinweis, dass dergleichen in Zukunft nicht mehr geschehen könne.
Im Gegenteil. Ein großer Meteoritentreffer, wie er mutmaßlich zum
Aussterben der Saurier geführt habe, sei rein statistisch überfällig
immer wieder kommen Asteroiden der Erde bedrohlich nahe; auch jener,
der in etwa zehn Jahren die Erdbahn kreuzen wird, schien nach ersten Beobachtungen
ein Kandidat für einen Volltreffer zu sein. Erst nach Tagen kamen Wissenschaftler
zum Schluss, dass der Asteroid die Erde verfehlen wird, wenn auch nach
kosmischen Maßstäben recht knapp. Hoffen wir, dass die Berechnungen
stimmen.
...alles ändert
sich
Es braucht aber keine außerirdischen Brocken, um Katastrophen anzurichten;
dass wir uns auf einer hauchdünnen Gesteinsschale über glutflüssigem
Magma bewegen, erfuhren wir schon in der Schule im Geologieunterricht. Das Wissen
um diese Fakten hat aber wenig Tröstendes, wenn wie zuletzt an Weihnachten
2004 sich die unterirdischen Gewalten Bahn brechen und eine Flutwelle
auslösen, die Hunderttausende in den Tod reißt.
Naiv ist, wer glaubt, derlei geschähe immer nur "woanders". Auch
unsere Breiten sind nicht sicher. Freilich, man weiß, dass der Oberrheingraben
tektonisch aktiv ist (was die Energieversorger aber keinesfalls davon abhält,
dort Atomkraftwerke zu bauen); das Granitgestein des Schwarzwaldes wähnte
man indes relativ solide. Mein Glaube daran wurde schon bei den Erdbeben in
Bernau und im Glottertal (und zwar im Wortsinne) erschüttert beide
Beben hatte ich nahe des Epizentrums erlebt. Dass aber selbst unter dem Waldkircher
Hausberg, dem Kandel, eine geologische Zeitbombe tickt, wurde mir erst klar,
als mich ein Beben der Stärke 5,4 aus dem Schlaf rüttelte.
Die Medien sorgen bei solchen Geschehnissen dafür, dass sie in Windeseile
global verbreitet werden - das macht Katastrophen, selbst wenn ihre unmittelbaren
Auswirkungen lokal oder regional begrenzt sind, zu kollektivem Erleben. Dadurch
wird das subjektive Empfinden bezüglich der Häufigkeit solcher Ereignisse
natürlich verändert. Andererseits stellen sich, nach mehreren deutlich
spürbaren Erdbeben in relativ kurzer Zeit, viele Südbadener die Frage,
ob es nicht tatsächlich eine Häufung gibt, zumal ja laut Statistik
wieder einmal ein Erdbeben in der Größenordnung desjenigen,
das im Mittelalter Basel zerstörte, fällig sei.
Aber selbst wenn die Erde unter uns Ruhe gibt, wähnen wir uns nicht sicher
angesichts dessen, was sich über unseren Köpfen zusammenbraut. Das
globale Klima ändert sich. Wie weit da die Menschheit die Finger im Spiel
hat, ist noch nicht endgültig geklärt. Einen erheblichen Anteil
bedingt durch die Verbrennung fossiler Energieträger haben wir daran
aber sicher. Nun hat es zweifelsohne in der Erdgeschichte so etwas wie ein "Normalklima"
nie gegeben im Laufe der Jahrmillionen war es immer wieder deutlich wärmer
oder kälter als heute. Mit Sicherheit ausschließlich "hausgemacht"
ist aber die Zerstörung der Ozonschicht, die uns in den kommenden Jahrzehnten
eine drastische Zunahme von Hautkrebs bescheren wird.
Auch ist mit von Kriegen heutzutage als "bewaffnete Auseinandersetzungen"
verniedlicht zu rechnen, wenn Ressourcen wie Erdöl oder Trinkwasser
zur Neige gehen. Einen Anfang haben wir schon beim Irakkrieg erlebt. Ohne Alternativen
in der Energieversorgung werden diese Konflikte an Anzahl und Schärfe zunehmen
da ist es symptomatisch (und gleichermaßen erschreckend), wenn
die US-Regierung derzeit "kleine" Atombomben erprobt, mit denen Bunkeranlagen
von Terroristen selbst innerhalb von Städten gesprengt werden sollen.
Widersprüche
Nicht zu unterschätzen in ihrer Auswirkung auf die kollektive Psyche sind
auch die Widersprüche, mit denen wir täglich konfrontiert werden
es scheint, dass jeder einzelne Aspekt unseres Lebens ein Dilemma in sich birgt.
Dreh- und Angelpunkt, insbesondere der westlichen Welt, ist das solide Funktionieren
der Wirtschaft und des Geldflusses. Dass das Geld nicht in dem Maße fließt,
wie es sollte, sondern vermehrt kumuliert wird, ist systemimmanent eine
zinsbasierte Währung hat schon immer dazu verlockt, Reichtum "von
alleine" wachsen zu lassen. Das dies langfristig nicht funktionieren kann,
ist jedem Volkswirtschaftler bekannt, wird aber gemeinhin ignoriert.
Wenn die Gewinnerzielung und -maximierung oberste Priorität genießt,
wird man zwangsläufig mit Hindernissen konfrontiert mit der Ökologie
beispielsweise. Es ist schließlich unbestreitbar, dass der Einbau von
Filteranlagen in die Schornsteine einer Produktionsanlage den Gewinn schmälert.
Für ein Unternehmen ist das keine Investition, denn die Filter werden auch
künftig nicht zur Gewinnsteigerung beitragen. Zweifellos hat hier in weiten
Teilen der Wirtschaft, nach massivem öffentlichen Druck, ein Umdenken stattgefunden,
dennoch scheinen sich etliche Unternehmen ihrer Verantwortung noch nicht so
recht bewusst zu sein und betreiben ihren Raubbau dort, wo nicht mit Widerstand
zu rechnen ist. Coca-Cola hat beispielsweise keinerlei Hemmungen, indischen
Bauern regelrecht das Wasser abzugraben.
Keine Skrupel
Insgesamt kann man seit einigen Jahren verstärkt feststellen, dass das
Ziel der Gewinnmaximierung jegliche Skrupel auszulöschen scheint. Gemäß
dem Motto "wo gehobelt wird, fallen Späne" nehmen Konzerne in
Kauf, soziale und gesellschaftliche Veränderungen auszulösen, die
nicht unbedingt im Sinne eines geregelten Miteinanders sind. Schon alleine die
Diskussion über die Problematik eines ungezügelten Kapitalismus genügt,
um die Fronten der Befürworter und Gegner auf eine ungesunde Weise zu verhärten.
Dies sind Indizien für eine drohende gesellschaftliche Spaltung und Radikalisierung
und es ist beileibe nicht weit hergeholt, wenn einem das bekannt vorkommt.
Wenn es gilt, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen
(oder wenigstens zu erhalten, denn wer mag schon ernsthaft daran glauben, dass
eines Tages fünf Millionen neue Arbeitsplätze aus dem Nichts auftauchen?),
ist es natürlich konsequent, den Gedanken an ökologische Probleme
weit von sich zu schieben. Dann darf man auch keine Hemmungen haben, Waffen
in Krisengebiete oder an totalitäre Staaten zu liefern. Es sei aber schon
die Frage gestattet, was man eigentlich will: Arbeit und Wohlstand durch Krieg
und Umweltzerstörung oder eine halbwegs intakte Umwelt und eine Nichtbeteiligung
an Kriegen, weil man keine Waffen liefert und damit den Verlust des Wohlstandes.
Ein ökologisch verträglicher, friedlicher und dennoch ungezügelter
Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich. Welcher Vorstandsvorsitzende eines
Rüstungsunternehmens wird schon öffentlich zugeben, dass er sich über
Krisenherde freut, weil die Waffenverkäufe den Aktienkurs nach oben bringen?
Was sind das überhaupt für Menschen, die Maschinenpistolen produzieren,
die zum Gebrauch für Kinder optimiert sind? Es ist ein Witz: Kein Unternehmen
darf Güter auf den Markt bringen, die bei bestimmungsgemäßem
Gebrauch den Benutzer gefährden. Ein Elektrogerät ohne Schutzerdung
oder Isolierung undenkbar. Andererseits dürfen Firmen Güter
herstellen, deren einziger Sinn und Zweck die Auslöschung menschlichen
Lebens ist. Eine Maschinenpistole von Heckler & Koch ist definitiv kein
Arbeitsgerät für einen Förster.
Freilich lassen sich nicht alle Unternehmen über einen Kamm scheren; gerade
die kleinen und mittelständischen Betriebe zeichnen sich oft durch ein
hohes Maß an sozialer Verantwortung aus. Konzerne gehören jedoch
in eine ganz andere Kategorie: Es handelt sich um Schaltstellen der Macht, nicht
nur der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen.
Vertrauenskrise
durch Photoshop
Die innere Zerrissenheit der Gesellschaft ist auch durch den Verlust des Vertrauens
in die Institutionen geprägt. Die Medien produzieren eine Bilderfülle,
deren Glaubwürdigkeit durch praktisch perfekte Manipulationsmöglichkeiten
gelitten hat. Mochte früher selbst dem visuell eher durchschnittlich begabten
Betrachter auffallen, dass auf einem Stalin-Bild der daneben stehende Trotzki
übermalt wurde, ist heute das Erkennen solcher Fälschungen nahezu
unmöglich geworden es sei denn, der Bildoperator war beim Basteln
in Photoshop gar zu nachlässig. So geschehen bei von der US-Regierung herausgegebenen
Fotos, wo statt einer handvoll Soldaten ganze Mannschaften abgebildet waren.
Betrachtete man die Bilder genauer, stellte sich heraus, dass die Soldaten aus
dem Vordergrund kopiert und in den Hintergrund eingesetzt worden waren. Dass
mittlerweile die Verbreitung solcher Manipulationen leichter als früher
ist, hängt auch mit der zunehmenden Medienkonzentration zusammen
es gehen immer mehr Kontrollinstanzen verloren. Und welcher durchschnittliche
Bürger ist schon in der Lage, jedes ihm vorgesetzte Bild auf winzige Unstimmigkeiten
in Perspektive und Lichtverhältnisse zu prüfen (so sie denn vorhanden
sind), wo doch schon Fachleute nicht mehr für die Echtheit eines Bildes
die Hand ins Feuer legen möchten?
Kernproblem
Angst
Das Kernproblem der gesellschaftlichen Veränderungen heißt Angst.
Sie konzentriert sich in erster Linie auf den Besitz und den sozialen Status,
da man sich in der westlichen Welt vorwiegend darüber zu definieren glaubt.
Perfiderweise müssen in einer Gesellschaft nur genügend Individuen
daran glauben, um daraus eine Tatsache zu machen; den Rest erledigt der Gruppenzwang.
Die Verlustängste beziehen sich vorwiegend auf die Quelle des mehr oder
weniger großen Wohlstands, den Arbeitsplatz. Und der ist heute so unsicher
wie lange nicht mehr vielleicht seit Ende der Zwanzigerjahre des letzten
Jahrhunderts. Oder so unsicher wie noch nie denn die Tendenz geht eindeutig
dazu, so viel wie möglich mit so wenigen wie möglich zu produzieren.
Wenn die Angst ein gewisses Maß übersteigt, greift sie auch auf die
staatlichen Institutionen über zumindest in einem nicht totalitär
geführten Staatswesen; in diesen wird die Angst instrumentalisiert: Wenn
du nicht gehorchst, kommst du ins KZ! In einem nicht autoritär geführten
Staat drohen möglicherweise Unruhen, deren erste Opfer vermeintliche oder
tatsächliche Privilegierte sind. Wenn der Staat aber die bestehenden Verhältnisse
nicht ändern kann oder ändern will, bleibt ihm nur die Möglichkeit
der Kontrolle, um gegen ihn oder seine Vetreter gerichteten Aktionen schon im
Keime zu ersticken. Eben diese Möglichkeiten finden auch in Deutschland
Anwendung mit dem Risiko, zum Spitzelstaat zu werden. In manchen Bereichen
wurden hier bereits nicht mehr tolerable Grenzen überschritten.
Ein ursprünglich demokratisch geprägter Staat kann seine Bürger
aber nur überwachen, wenn er dafür eine Gegenleistung verspricht
zum Beispiel Sicherheit. Die Anschläge auf das Pentagon und das World Trade
Center boten hier einen Anlass, denn die Bedrohung durch den Terrorismus wurde
von den Bürgern wesentlich stärker empfunden, als sie es tatsächlich
war. Im Gegenteil: Erst nach dem von den USA erklärten "Krieg gegen
den Terrorismus" (was ungefähr so sinnvoll ist wie "Krieg gegen
den Krieg" oder "Terrorismus gegen den Terrorismus") stieg die
Zahl der weltweiten Anschläge, die meisten davon im Irak, ins Uferlose
und zwar laut einer Studie der US-Regierung, der das eigentlich schwer
im Magen liegen müsste. Letztlich ist das natürlich auch eine Instrumentalisierung
der Angst, mit dem Unterschied zu totalitären Systemen, dass ein sich als
demokratisch bezeichnender Staat den Verursacher der Angst nach außen
projiziert.
Sicherheit
um jeden Preis?
Auch in Deutschland heißt das Zauberwort "Sicherheit". Der Aktionismus,
der betrieben wird, um dem Bürger Sicherheit als höchstes Gut in allen
Lebensbereichen nahe zu bringen, nimmt dabei zuweilen geradezu satirische Züge
an. So soll der Bürger mit Hubschraubern vor Graffitti-Sprayern geschützt
werden. SPD und CDU plädieren in befremdender Einigkeit für ein Rauchverbot
beim Autofahren ob gleichzeitig auch das Essen und Trinken am Steuer
oder die Mitnahme miniberockter Beifahrerinnen unter Strafe gestellt werden
soll, ist noch nicht raus. Grotesk auch das Gerangel um ein Anti-Diskriminierungsgesetz,
das den Bürger vor jeglicher Benachteiligung schützen soll
als gäbe es kein Grundgesetz. Ein Hausbesitzer, der eine Wohnung inseriert,
könnte schwer in die Klemme kommen, wenn er die gerne an eine Familie mit
Kindern vermieten möchte denn damit diskriminiert er alle Alleinstehenden
und kinderlose Paare.
Man könnte meinen, es gäbe in diesem Land keine schwerwiegenderen
Probleme. Der Gedanke an Scheingefechte zur Ablenkung von den tatsächlichen
Schwierigkeiten drängt sich geradezu auf. Jede noch so halbgare Idee wird
herausposaunt und sorgt für Zündstoff. Konsequent zu Ende gedacht
ist keiner der Ansätze. Der Staat traut seinen Bürgern immer weniger
Verantwortungsbewusstsein zu, deshalb muss alles per Gesetz geregelt werden.
Und mit jedem scheinbaren Mehr an Sicherheit geht zwangsläufig ein Stück
Freiheit verloren. Natürlich ist ein gewisses Maß an Sicherheit wichtig.
Niemand wird ernsthafte Argumente zum Beispiel gegen die Anschnallpflicht im
Auto vorbringen können. Wer schon einmal nach einem schweren Unfall lediglich
mit einer Gurtprellung aus den Trümmern seines Autos gestiegen ist, weiß,
wovon die Rede ist. Wenn aber Bereiche reglementiert werden sollen, wo deren
der Nutzen fraglich ist, handelt es sich schlicht um Gängelung. Das zeigen
schon die fadenscheinigen Begründungen, mit denen beispielsweise ein Rauchverbot
am Steuer "schmackhaft" gemacht werden sollte: Unfallforscher hätten
nämlich festgestellt, dass sich ein Auto, dessen Fahrer nach einer heruntergefallenen
Zigarette sucht, bei Tempo 50 in der Sekunde um (wörtlich!) "mindestens
14 Meter weiterbewegt". Ein Auto legt bei 50 Stundenkilometern ziemlich
genau 13,88 Meter in der Sekunde zurück. Nicht "mindestens"
oder sind die zitierten Unfallforscher der Meinung, dass die zurückgelegte
Strecke bei konstantem Tempo variabel ist? Diese Strecke legt das Auto auch
dann zurück, wenn der Fahrer nicht raucht, sondern nach einer heruntergefallenen
CD sucht. Insofern sollte das Musikhören im Auto auch verboten werden.
Andererseits scheint sich niemand darüber aufzuregen, dass ein Auto bei
Tempo 200 in jeder Sekunde 55,5 Meter zurücklegt eine Geschwindigkeit,
die auf deutschen Autobahnen nicht unüblich ist.
Ein anderes Beispiel für blinden Aktionismus und halbgare Gesetze: Es dürfte
hinreichend bekannt sein, dass das Fahren mit Sommerreifen im Winter Risiken
birgt. Wer es dennoch macht, bleibt auf den Kosten der von ihm verursachten
Schäden sitzen, da keine Versicherung für solchen Leichtsinn aufkommt.
Das kommt de facto schon einer Winterreifenpflicht gleich, aber nun muss das
auch noch gesetzlich verankert werden. Damit ließe sich ja zunächst
einmal leben, aber nun wird die Geschichte wieder wachsweich gekocht: Die einfachste
Lösung wäre ja gewesen, Winterreifen grundsätzlich von November
bis März vorzuschreiben, aber nein, man darf auch in Zukunft im Januar
mit Sommerreifen fahren, vorausgesetzt, die Straßen sind frei. Ob man
bei plötzlich einsetzendem Schneefall das Auto stehen lassen muss, ist
nicht geregelt. Und wer soll das kontrollieren? Schwärmt bei Schnee und
Glatteis die Polizei in Scharen aus, um Reifensündern habhaft zu werden?
Wo sie doch nicht einmal in der Lage ist, das bei Schulbussen zu überprüfen
(für die Winterreifen längst verbindlich vorgeschrieben sind), wie
Busunternehmer in Hinsicht auf die schwarzen Schafe ihrer Zunft beklagen? Also
wieder ein überflüssiges Gesetz ohne echten Nutzen, dessen Entstehung
bestimmt eine Menge Steuergelder gekostet hat.
Man könnte natürlich auf technische Lösungen setzen: Alle künftig
ausgelieferten Reifen werden mit einem RFID-Chip ausgestattet, der eine Kennung
des Reifentyps aussendet. Der Empfänger wird mit einer Radaranlage gekoppelt,
die das Fahrzeug mit Bild erfasst. So werden mit den Temposündern auch
gleich die Reifensünder geschnappt. Alles nur zur Sicherheit und
mit den (praktisch als Abfallprodukt) aufgezeichneten Bewegungsprofilen ließe
sich die Terrorismusbekämpfung optimieren. Ich hoffe, ich habe da niemanden
auf eine Idee gebracht...
Ein Sonderpreis für das Aktivieren des Mundwerks vor dem Einschalten des
Gehirns gebührt sicherlich auch Verteidigungsminister Struck, der vorschlug,
bei Übungen und Manövern Arbeitslose als Komparsen einzusetzen. Viel
effektiver wäre es doch, sie als bewegliche Ziele zu verwenden; erstens
könnte man die Bundeswehr damit erheblich realitätsbezogener auf ihre
künftigen Aufgaben vorbereiten, zweitens wäre das Problem der Massenarbeitslosigkeit
damit über kurz oder lang gelöst.
Die Furcht
der Mächtigen
Zurück zur Angst von Politik und Wirtschaft, die Angst der Bürger
könnte zu deren Unberechenbarkeit führen. Dass diese Angst existiert,
zeigt die Aufregung um SPD-Chef Müntefering. Selbst die "Ratten und
Schmeißfliegen" von Franz Josef Strauß hatten seinerzeit nicht
für so viel Aufregung gesorgt wie nun aktuell die "Heuschrecken".
Wenn ein Politiker Unternehmer (also natürliche Personen) mit Heuschrecken
vergleicht, mag man meinetwegen darüber diskutieren, ob ein solcher Vergleich
seine Wurzeln im Vokabular des Nationalsozialismus hat, aber was das Verhalten
von Unternehmen (im Sinne von juristischen Personen) betrifft, sind die Parallelen
schon frappierend: Wenn ein Konzern wie Coca-Cola, wie oben schon erwähnt,
in Indien Brunnen bohrt, nimmt er in Kauf, dass das umliegende Land vertrocknet.
Ist der Brunnen erschöpft, wird das Werk geschlossen und ein paar Kilometer
weiter, wo es andere Quellen gibt, neu gebaut. Die Äcker im Umland, die
zurückbleiben, sehen in der Tat so aus, als wären Heuschrecken über
sie hergefallen. Dass Müntefering in der Sache nicht glaubwürdig ist,
ist ein anderes Kapitel. Mit Sicherheit ging es ihm aber nicht darum, Menschen
ihr Menschsein abzusprechen, wie der Historiker Wolffsohn unterstellte. Auch
der Antisemitismus-Vorwurf wegen einer Liste mit Firmennamen, die als Beispiele
für Anarcho-Kapitalismus dienen sollten, ist lächerlich: Zwei von
zehn der aufgelisteten Firmen trügen einen jüdischen Namen. Damit
solle unterschwellig angedeutet werden, dass das Kapital in der Hand des "Weltjudentums"
sei. Oder 80 Prozent in der Hand von Mitgliedern anderer Glaubensgemeinschaften?
Der Unternehmensberater Roland Berger sprach die Ängste der Unternehmer
vielleicht am ehrlichsten aus: "Wenn Unternehmenspersönlichkeiten
öffentlich verurteilt werden, muss man sich nicht wundern, wenn irgendwelche
Verrückten schließlich RAF spielen." Ob mit diesem Appell zur
Mäßigung aber auch Guido Westerwelle gemeint ist, bleibt offen. Der
hatte die Gewerkschaftsfunktionäre als "die wahre Plage in Deutschland"
bezeichnet und angekündigt, nach einem Wahlsieg die Gewerkschaften entmachten
zu wollen, notfalls unter Inkaufnahme von Massenprotesten. Und dann? Gleichschalten?
Die Funktionäre ins Gefängnis werfen? Wo bleibt der Aufschrei von
Wolffsohn?
Immerhin, wenn die Gewerkschafter aus dem Verkehr gezogen sind, können
die Arbeitgeber endlich ungestört ihre Ideen in die Tat umsetzen
zum Beispiel Lohnkürzung oder Streichung von Urlaubstagen bei Krankheit.
Das kommt bestimmt vor allem bei Arbeitsunfällen gut: Wer so blöde
ist und sich vom Gabelstapler überfahren lässt, sollte auch nicht
meckern, wenn man ihm zwanzig Prozent vom Lohn abzieht!
Erziehung zur
Schizophrenie
Widersprüche, wo man nur hinschaut: Sichert die Gesundheit der Bürger!
Jeder Diesel ohne Rußfilter lässt Dutzende von Passanten tot am Straßenrand
zusammenbrechen! Freilich sollte getan werden, was Stand der Technik ist, um
die Luft zu verbessern. Lassen wir mal beiseite, dass dies der Industrie vollkommen
egal ist, sonst würde beispielsweise VW die Rußfilter, die auf Halde
produziert werden, verkaufen, statt auf staatliche Beschlüsse zu warten.
Betrachten wir lieber mal die Tatsachen: Die Luft in Deutschland ist so sauber
wie schon lange nicht mehr. Vor 40 Jahren wogten noch rund 40 Millionen Tonnen
Feinstaub durch die Republik, heute sind es noch fünf Prozent davon. Vor
40 Jahren wurden die Leute vielleicht 70 Jahre alt (womit sie im Durchschnitt
fünf Jahre lang in den Genuss ihrer Rente kamen). Verstand man damals unter
einem Rentner einen Tattergreis, der sich mithilfe eines Stocks mühsam
den Gehweg entlangschleppte, wimmelt es heute nur so von dynamischen Siebzigjährigen,
die regelmäßig nach Mallorca pendeln, Sport treiben oder nach Rolling-Stones-Konzerten
lästern, dass Mick Jagger 1965 erheblich besser in Form gewesen sei.
Wie gesagt: Ein Risiko, das nach dem Stand der Technik vermieden werden kann,
sollte man auch vermeiden! Aber in jüngster Zeit bricht regelmäßig
bei Debatten, in denen es um "Schutz vor..." oder "Sicherheit
vor..." geht, eine gewaltige Hysterie aus.
Ist es nicht verrückt? Da beklagt man sich, dass die Menschen immer älter
werden und daher das Rentensystem zusammenbräche. Gleichzeitig wird die
Tabakindustrie an den Pranger gestellt, weil ihre Produkte das Leben ihrer Konsumenten
verkürzen. Also, was denn nun? Aus irgend einem Grunde fällt mir dazu
ein Artikel ein, der kürzlich bei telepolis
erschienen war: In den USA hatte man die ungeheuerliche Feststellung gemacht,
dass Männer in Peepshows onanieren. Um diese Perversion zu verhindern,
sollen die Kabinen künftig mit Kameras überwacht werden. Das Bild
wird auf einen Monitor nach draußen übertragen. Das ist ungemein
praktisch, dann kann man die Übeltäter nämlich wegen Exhibitionismus
dingfest machen. Aber das nur am Rande...
Diejenigen, die der Gesellschaft eine "Vollkaskomentalität" vorwerfen,
sind interessanterweise dieselben, die permanent "Sicherheit" propagieren
allerdings immer nur in dem Zusammenhang, der Politik und Wirtschaft
in den Kram passt. So erzieht man zur Schizophrenie.
Es gibt keine "absolute" Sicherheit. Betrachten wir doch einmal das
Szenario einer Gesellschaft, in der Sicherheit oberste Priorität hat: Autos
werden nur noch mit kompletter Sicherheitsausstattung zugelassen: Airbags rundum,
ABS, ESP und was es sonst noch an technischen Kürzeln gibt, die Höchstgeschwindigkeit
ist elektronisch auf 100 Stundenkilometer begrenzt (übrigens beklagen Feuerwehren,
dass es immer schwieriger sei, nach schweren Unfällen Verletzte aus ihren
Hochsicherheitsautos zu bergen auch so ein Widerspruch). Fraglich ist,
ob wegen der zu erwartenden Steuerausfälle das Rauchen verboten wird, aber
man könnte das ja so regeln, dass Raucher für typische Raucherkrankheiten
selbst aufkommen müssen. Zumindest wird der Kauf von Tabakwaren auf der
Krankenkassenkarte gespeichert, ebenso der Kauf von Alkoholika, die dann aber
ohnehin nur noch maximal zehn Prozent Alkohol enthalten dürfen. Das gilt
natürlich auch bei cholesterinhaltigen Lebensmitteln; beim Betreten einer
Pizzeria wird zuerst der auf der Chipkarte eingetragene letzte Untersuchungswert
abgerufen; im Zweifelsfalle wird dem Gast nur Salat serviert es ist ja
nur zu seinem Besten!
Wegen der Unfallgefahr werden etliche Wanderwege im Schwarzwald gesperrt und
dürfen nur noch mit einem in Erster Hilfe ausgebildeten Führer betreten
werden. In Privathaushalten dürfen nur noch Leitern mit maximal drei Sprossen
verwendet werden, die zudem ein Geländer haben. Kinder dürfen nur
noch auf zertifizierten Spielplätzen spielen, deren Klettergeräte
nicht höher als einen Meter sein dürfen. Das Erklettern von Bäumen
wird aus Sicherheitsgründen gesetzlich verboten. Für alle herrscht
eine Impfpflicht gegen Tetanus, Hepatitis, Röteln und Grippe. Die Verwendung
von Kondomen wird grundsätzlich zur Pflicht; zur Zeugung von Nachwuchs
brauchen beide Partner eine amtsärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung,
die den temporären ungeschützten Verkehr bis zum Eintreten einer Schwangerschaft
gestattet; allerdings wird eine Gesetzesreform künftig die künstliche
Befruchtung präferieren. Ob das Leben in solch einem Land noch lebenswert
wäre?
Solche Restriktionen müssen natürlich auch konsequent überwacht
werden, sonst würde der Bürger womöglich auf Schritt und Tritt
gegen Gesetze und Vorschriften verstoßen. Bezahlt würden die Überwacher
natürlich von den Überwachten. Ein non-fiction-Beispiel gefällig?
Seit es in Deutschland kein Bankgeheimnis mehr gibt, werden laut Schätzungen
des Bundesverbandes deutscher Banken täglich über 2.000 Konten überprüft,
mittelfristig sei eine Steigerung auf über 5.000 Abfragen möglich.
Der Mehraufwand für die Banken für Technik und Personal wird auf ca.
100 Millionen Euro veranschlagt und diese Summe holen sich die Banken
natürlich von den Kunden wieder zurück.
Noch mehr Widersprüche
und Merkwürdigkeiten...
Noch ein paar Gemeinheiten gefällig? Die Gegner von Windkraftanlagen verweisen
auf Funde von toten Fledermäusen unter den Rotoren. Aber keiner von ihnen
spricht von toten Fischen in Wasserkraftanlagen, den Folgen des Schadstoffausstoßes
von Kohlekraftwerken... es gibt keine Technik, die nicht in irgendeiner Weise
negative Folgen hat. Wie viele Tiere sind bei Waldbränden gestorben, die
durch steinzeitliche Lagerfeuer entstanden sind? Selbst wenn wir Strom völlig
ökologisch erzeugen, werden auch künftig Großvögel, deren
Spannweite länger ist als die Isolierungen, an Hochspannungsmasten verbrennen.
Jeder, aber auch wirklich jeder technische Fortschritt beinhaltet ein mehr oder
weniger großes Risiko. Und wo ist das Gefahrenpotenzial denn größer?
Bei einer Windkraftanlage oder bei einem Atomkraftwerk? Wie viele Fledermäuse
sind in Harrisburg, Sellafield und Tschernobyl verstrahlt worden?
Auch der Mensch wurde immer wieder Opfer seines eigenen Erfindergeistes. Kaum
gab es eine größere Anzahl Autos, gab es schon die ersten Verkehrstoten
zu beklagen. Immerhin werden heute dafür kaum noch Menschen von Kutschen
überrollt oder von Pferden totgetrampelt. Natürlich sind heute viel
mehr Menschen von Verkehrsunfällen betroffen was natürlich
einerseits mit der gestiegenen Mobilität, andererseits auch schlicht damit
zusammenhängt, dass es mehr Menschen gibt. Der Mensch erfand mehrstöckige
Häuser und schon brachen sich die ersten bei Treppenstürzen
das Genick. Anstatt aber nun die Treppen zu verbieten, erfand man das Geländer.
Ausgerechnet da aber, wo man gerne etwas mehr Sicherheit hätte, gibt es
keine: Bei den Arbeitsplätzen, bei der Familienplanung, im Alter
also bei den wirklich existenziellen Dingen des Lebens. Wie gesagt: schizophren.
Es gibt noch viele Merkwürdigkeiten zu beobachten. Oft nur winzige, fast
nebensächliche Kleinigkeiten, die aber erstaunlich gut in das Bild einer
sich verändernden Gesellschaft passen, die darauf hinweisen, dass dieses
Land nicht mehr dasselbe ist wie das, in dem meine Generation aufgewachsen ist.
Man achte einmal auf solche kleinen Details: Rasierklingen sind in den letzten
Jahren enorm teuer geworden. Ob nun der Euro daran Schuld hat oder die Chinesen,
die gigantische Mengen hochwertigen Stahls kaufen, sei dahingestellt. Eine Zehnerpackung
Rasierklingen, die vor gar nicht langer Zeit zehn bis zwölf Mark gekostet
hatte, hängt nun für unverschämte zehn Euro im Regal. Beziehungsweise,
da hängt sie nicht mehr, und das ist das eigentlich Bemerkenswerte: Ein
Hinweisschild bittet den Kunden, die Ware direkt an der Kasse zu erstehen
offenbar sind so viele Rasierklingen im Supermarkt gestohlen worden, dass man
sie der direkten Obhut der Kassiererinnen übergeben musste. Nimmt die Armut
ebenso wie die Preissteigerungen weiter zu, werden wir dereinst also ziemlich
sicher sagen können, wo der Anfang vom Ende des Selbstbedienungskonzeptes
zu finden war. Um lange Schlangen nach DDR-Vorbild zu vermeiden, müsste
das Personal erheblich aufgestockt werden; grob geschätzt bräuchte
ein durchschnittlicher Supermarkt dann sicher um die dreißig Verkäufer.
Das würde immerhin die Arbeitslosenquote erheblich senken.
...in einem
veränderten Land
Dieses Land ist tatsächlich nicht mehr dasselbe. Geografisch nicht mehr
seit der Wiedervereinigung, sprachlich nicht mehr seit der Rechtschreibreform.
Die (auch im Ausland) vielgerühmte soziale Marktwirtschaft ist Geschichte.
"Made in Germany" ist kein Gütesiegel mehr und als Herkunftsbezeichnung
ohnehin ein Witz; deutsch ist allenfalls noch der Firmenname, der Großteil
der (nicht wenigen) in meinem Haushalt befindlichen "deutschen Markengeräte"
wurde zumindest in Teilen, wenn nicht komplett, in Billiglohnländern produziert.
War ein Nazi früher ein altersgebeugter SS-Offizier, der bei Kameradschaftstreffen
zittrig aus Führerreden zitierte, ist er heute dynamisch und smart wie
einst Albert Speer und ordentlich gewähltes Mitglied eines Landtages.
Wir haben nicht mehr das gleiche Geld.
Wir verlieren unsere Bürgerrechte.
Nicht einmal die vertrauten 220 Volt kommen aus der Steckdose, seit europaweit
auf eine Spannung von 230 Volt umgestellt wurde.
Womit soll man sich im Zeitalter des globalen Umbruchs noch identifizieren?
Es ist jedenfalls kein Wunder, dass sich in einem Land, das sich Begriffe wie
"Nationalstolz" und "Vaterlandsliebe" aus dem Vokabular
gestrichen hatte (mit Ausnahme jener oben erwähnten Landtagsabgeordneten
und ihrer Wähler), der Regionalismus ausbreitet (was eine große Anzahl
von Regionalwährungsprojekten belegt) gewissermaßen der "Rückzug
ins Private" im etwas größeren Maßstab, oder, anders formuliert,
die geistige Gegenbewegung zur Globalisierung. Dass übrigens das Wort "National"
im Gegensatz zu "Potential/Potenzial" nicht der Rechtschreibreform
zum Opfer fiel, liegt wohl daran, dass "Nazional" irgendwie peinlich
aussieht.
Kraftaufwand
für Bagatellen
Man sollte nicht glauben, es sei eine spezifische Eigenart von Politikern, ihre
Kraft an kleine, im Grunde leicht lösbare Probleme zu vergeuden, statt
sie für die wirklich großen Probleme einzusetzen: es scheint inzwischen
auch auf die übrige Bevölkerung abzufärben. Zum Beispiel in Leserzuschriften
an Tageszeitungen, wenn ein Artikel zur globalen Problematik des Trinkwassers
kommentiert wird: Da schlägt ein Leser ernsthaft vor, die beliebten Pumpen
auf Kinderspielplätzen stillzulegen. Dass diese paar Liter in einem mit
sauberem Trinkwasser ohnehin gesegneten Land global gesehen nicht viel bewirken
werden, ist die eine Sache. Die andere ist die, dass jeder Haushalt hektoliterweise
bestes Trinkwasser zur Toilettenspülung benutzt, was ja nun wirklich keinen
Sinn macht. Aber genau diese Denkweise reflektiert diejenige der Politiker:
Es wird nichts zu Ende gedacht, der erstbeste Aspekt wird aufgegriffen und in
einem Anfall von Aktionismus als Kern des Problems hingestellt. Wieso noch mühsam
sachkundig machen? Mit Sachlichkeit gewinnt man keine Wahlen. Die Menschen müssen
medienwirksam angesprochen werden, man muss emotional sein, um Emotionen auszulösen.
Zu sagen haben muss man dabei nichts, Inszenierung ist alles. Funktioniert hatte
diese Methode übrigens auch schon 1933 Charlie Chaplin hatte das
mit seinem "Schtonk"-Gebrülle in seinem Meisterwerk "Der
große Diktator" virtuos entlarvt. Nebenbei enthüllt der obige
Brief offensichtlich auch die Prioritäten des Schreibers: Toiletten sind
wichtiger als Kinder, sonst hätte er für Spartasten an der Spülung
plädiert. Dass er mit dieser Meinung nicht alleine steht, weiß man
als Familienvater.
Die schizophrene
Gesellschaft
Die gesellschaftliche Schizophrenie ist für einen Verstand, der die Situation
rational zu analysieren versucht, vielleicht der einzige Ausweg aus der allgegenwärtigen
Verwirrung ein Psychologe könnte da sicher einiges dazu sagen. Der
Einzelne fühlt sich machtlos und ausgeliefert. Ein Beispiel: Um in der
westlichen Gesellschaft (über-)leben zu können (und dabei muss es
sich nicht einmal um Wohlstand handeln), muss der Schornstein rauchen, es muss
möglichst viel produziert und konsumiert werden. Dabei ist jedem rein verstandesgemäß
klar, dass es hierbei ökologisch bedingte Grenzen geben muss. Dennoch muss
man mitmachen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Um dem Gewissenskonflikt
angesichts der Umwelt- und Ressourcensituation zu entgehen, bleibt nur die Persönlichkeitsspaltung:
Einerseits ist man Teil des Produktions- und Konsumprozesses, andererseits ist
man ganz "öko". Man sortiert den Müll und vermeidet Plastiktüten
im Supermarkt, und natürlich fährt man ein verbrauchsarmes Auto, wobei
man geflissentlich übersieht, dass das Fahrzeug ohne Klimaanlage, elektrische
Fensterheber, Sitzheizung, elektrische Spiegelverstellung, elektrisches Schiebedach,
automatische Sitzanpassung, Automatikgetriebe und Navigationsgerät nochmal
über einen Liter weniger benötigen würde. Aber die Zusatzausstattung
hat vermutlich die andere Persönlichkeit gekauft.
Das Bild der gespaltenen Persönlichkeit passt perfekt auch zur "neuen"
Bundesrepublik seit 1990: Hier die Wessis, da die Ossis. Aber Schizophrenie
soll ja in vielen Fällen heilbar sein. Inzwischen trösten wir uns
damit, dass wir das Pflegepersonal spätestens alle vier Jahre austauschen
dürfen. Die Sache hat indes einen Haken: An der Politik ändert sich
wenig. Was also tun?
Die Wahl der
Qual
"Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen, welche Diebe mich bestehlen,
welche Mörder mir befehlen", sang Rio Reiser einst bei Ton Steine
Scherben. Also gar nicht mehr wählen? Immerhin ging die Beteiligung
bei Bundestagswahlen seit 1972 von 91 auf 79 Prozent zurück. Aber der Haken
dabei: Für die Anzahl der Sitze ist nicht die absolute Stimmenzahl entscheidend,
sondern das Verhältnis. Aufs Gröbste vereinfacht hieße das:
Angenommen, es gäbe bei den nächsten Bundestagswahlen einen riesigen
Boykott und nur drei Leute gingen wählen, von denen zwei für die FDP
stimmten Westerwelle würde in Schampus baden!
Und überhaupt: Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Sagten schon die alten
Römer. Das sehen wohl auch die knapp eine Million aktiven Nichtwähler
so: Sie gehen zur Wahl, um in der Kabine ihre Stimmzettel ungültig machen.
Ein paar tausend ungültiger Stimmen könnte man sicher mit dem Unvermögen
der Leute erklären, einen Stimmzettel vernünftig auszufüllen,
aber ab einer gewissen Größenordnung sollte man schon nachdenklich
werden. Man könnte zum Besipiel auf die Idee kommen, dass sich immer mehr
Menschen von den Parteien nicht mehr angemessen repräsentiert fühlen,
weshalb sie den Volksvertretern ihre Legitimation verweigern. Netter Nebeneffekt:
Die Parteien bekommen nur Geld für gültige Stimmen...
Es ist unbestreitbar, dass die derzeitige Regierung eine Politik vertritt, von
der ein ohnehin schon privilegierter Teil der Bevölkerung profitiert, während
der Rest zunehmend Nachteile in Kauf nehmen muss (was sich mit einem Regierungswechsel
natürlich nicht ändern wird eher im Gegenteil). Daher ist es
auch immer weniger im Interesse dieser Politik, dass der Bürger mitentscheidet
siehe die vielfach geforderte Abstimmung über die EU-Verfassung.
Die Diskrepanz zwischen Wählerwillen und Entscheidungen der angeblichen
Volksvertreter ist unübersehbar und wird noch größer. Beispiel
Niederlande: 80 Prozent der Parlamentarier befürworteten die EU-Verfassung,
aber 60 Prozent der Wähler waren dagegen. Ähnlich dürften die
Verhältnisse in Deutschland liegen.
Wieso überhaupt noch wählen, wenn die Politik in existenziellen Fragen
ohnehin Outsourcing betreibt? Wie bei Hartz IV, wo ein Wirtschaftsboss der Kommission
vorsteht, der in erster Linie seinen Aktionären gegenüber verantwortlich
ist. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die Inhalte von Hartz IV, sondern darum,
dass demokratische Entscheidungsprozesse zunehmend in nicht demokratisch legitimierte
Kommissionen verschoben werden, wir also ein wachsendes Demokratiedefizit beobachten
können.
Ende der Fahnenstange
Wie zu Beginn schon angedeutet, dringt noch ein weiterer Angstfaktor ins gesellschaftliche
Denken, nämlich das Bewusstsein, dass das Ende der Fahnenstange in Reichweite
rückt, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher
auch wenn die Wirtschaft stur die gegenteilige Meinung vertritt. Möglicherweise
wurde Peak Oil also das Ölfördermaximum bereits erreicht
oder wir stehen ganz kurz davor. Wir merken das spätestens an der Tankstelle
oder wenn der nette Mann mit dem Heizöllaster kommt. Über 60 Dollar
für ein Barrel Rohöl und ein Ende des Preisanstiegs ist nicht
in Sicht. Ein Indiz für Peak Oil gefällig? Offiziell wollen die erdölexportierenden
Länder die Förderquote nicht erhöhen. Das könnte preispolitische
Gründe haben. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie die Förderquote
nicht erhöhen können. Betrachten wir einmal den anderen Grund,
weshalb die Preise steigen: Die Raffinerie- und Transportkapazitäten sind
voll ausgeschöpft. Es kann daher nicht soviel Rohöl in Endprodukte
umgewandelt werden, wie der Markt verlangt. Das führt zu einer Verknappung
und somit entsprechend der Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage
dazu, dass an der Tankstelle ein Liter Diesel derzeit 1,10 Euro kostet.
Nun sollte man meinen, dass die Mineralölindustrie der zu erwartenden steigenden
Nachfrage Rechnung getragen hätte, nicht zuletzt mit Blick auf die Schwellenländer.
Und es sollte in den Chefetagen bekannt sein, dass sich Öltanker, Pipelines
und Raffinerien nicht in zwei Wochen aus dem Boden stampfen lassen. Weshalb
also hat die Industrie nicht auf die allseits bekannte Entwicklung reagiert
und in entsprechende Kapazitäten investiert? Vielleicht, weil es sich nicht
mehr lohnt? Was wissen die Bosse von Exxon, Elf Aquitaine, Shell und wie sie
alle heißen, wovon wir nichts wissen (sollen)? Ein paar Zitate: "Die
Erdöl-Produktionsspitze steht unmittelbar bevor, sie kommt nicht erst in
einigen Jahren. Wenn ich recht habe, sind die Konsequenzen verheerend."
(Matthew R. Simmons, ehemaliger Berater der Bush-Regierung) - "Die letzten
Tage des Ölzeitalters haben begonnen." (Mike Bowlin, Generaldirektor
von US-Ölkonzern ARCO). Während ich diese Zeilen schrieb, warf ich
einen Blick in die Nachrichtenübersicht und stieß auf diese Überschrift:
"Experten halten 2015 Ölpreis von 380 Dollar je Barrel für möglich".
Aber schon für die nächste Zeit halten Analysten Preise von 75 Dollar
je Barrel für denkbar. Na, dann mal schöne Grüße an unsere
Wirtschaft... von solchen vom Öl abhängigen Bagatellen wie der Versorgung
mit Nahrungsmitteln und Medikamenten mal ganz abgesehen. Mit der Stromversorgung
könnte es auch schwierig werden und ohne Strom bricht auch die Kommunikation
zusammen.
Der Verlust billigen Öls würde die Landwirtschaft auf den Stand früherer
Jahrhunderte zurückwerfen und das, wo gleichzeitig immer größere,
ehemals fruchtbare Gebiete versteppen. Ende des 20. Jahrhunderts sank übrigens
nach vielen Jahren der Steigerung die globale landwirtschaftliche Produktion,
verringerten sich die weltweiten Nahrungsreserven.
Sechs Milliarden sind wir derzeit, und rund zwei Milliarden Inder und Chinesen
hätten auch gerne ein Stück vom Kuchen ab: Autos, Kühlschränke,
Klimaanlagen da ist das ökologische Desaster vorprogrammiert. Vernünftigerweise
müssten wir sagen "Sorry, Freunde und Nachbarn, Kuchen ist nicht,
wir haben schon zuviel davon gehabt." Tja, sollen wir Streichhölzer
ziehen, wer das den Leuten dort beibringt? Und überhaupt, wenn VW oder
DaimlerChrysler keine Werke in Chingkiang oder Jabalpur errichten um ein paar
Millionen Autos verkaufen können, müssen bei uns die Leute auf die
Straße gesetzt werden. Was uns allerdings Arbeitsplätze noch nützen,
wenn Indien und China unseren Motorisierungsstand erreicht haben, konnte mir
auch noch niemand plausibel erklären. Andererseits vielleicht kommt
es gar nicht mehr in diesem Umfang dazu, weil vorher das Öl ausgeht...
Das Wohlstandsniveau, das die Generation meiner Eltern erreicht hat, scheint
der Höhepunkt gewesen zu sein. Wovon meine Generation im Alter leben soll,
steht in den Sternen. Ebenso, wie Deutschland (und das durchaus nicht als einziges
Land) jemals den Schuldenberg von derzeit 1,4 Billionen Euro abtragen soll.
Eine ehrliche Antwort darauf müsste lauten: "Nie!"
Ein weiteres Indiz für das nahe Ende der Fahnenstange ist das Verhalten
der Besitzenden (gemeinhin auch "Kapitalisten" genannt) der
schrankenlose Neoliberalismus gleicht einem letzten "schnell noch holen,
was irgendwie zu holen ist". Bei einem Verhalten, das man in Anbetracht
der ökologischen Perspektive guten Gewissens als "über Leichen
gehen" bezeichnen kann, sollte man meinen, es müsste die Leute in
Scharen auf die Straße treiben, um dem Einhalt zu gebieten. Tut aber keiner.
Interessiert das keinen? Oder lautet die Devise "Kopf unten halten, vielleicht
wird's nicht ganz so schlimm!"? Ist es schlicht und einfach die Angst,
die lähmt? Verdrängung?
Fluchtverhalten
Angst macht hilflos, Angst vermindert die Produktivität, Angst vermindert
die Kreativität. Und die Liste dessen, was uns Angst und Unsicherheit einzuflößen
vermag, ist lang: Verlust des Arbeitsplatzes, sinkende Qualität der medizinischen
Versorgung, finanzielle Unwägbarkeiten im Alter, der schleichende Demokratieverlust,
staatliche Überwachung, die Verquickung von Politik und Wirtschaft (die
schwindende Macht bei Ersterer und zunehmende Macht bei Letzterer bewirkt),
die steigenden Lebenshaltungskosten bei gleichzeitigem Zwang zu Lohnverzicht,
völlig unerwartete und/oder unkalkulierbare Gesetzesänderungen wie
z.B. die EU-Dienstleistungsrichtlinie oder die Neuregelung der Kfz-Steuer, die
Angst vor dem Verlust von Besitz und sozialem Umfeld durch Hartz IV, die klimatisch
bedingte Zunahme von Unwetterkatastrophen, das rapide Schwinden von Ressourcen,
die steigende Akzeptanz von Kriegen als Fortsetzung der Politik, die mit einer
Zunahme der Hautkrebsrate verbundene Zerstörung der Ozonschicht, die Gefahr
sich durch den internationalen Reise- und Geschäftsverkehr ausbreitender
Krankheiten wie AIDS oder der Vogelgrippe, der Terrorismus mitsamt der Reaktionen
darauf all das zu den "normalen" Problemen, die ohnehin die
meisten mit sich herumschleppen.
Angst sorgt für negativen Stress und Ausweichverhalten wie der Flucht in
Scheinwelten gerade auch bei Kindern und Jugendlichen lässt sich
das beobachten: Dauerfernsehen, übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum,
zunehmende Aggression, psychische Störungen wen mag das noch wundern?
Es erstaunt nicht, dass jetzt der große Kampf gegen die Symptome beginnt,
gegen all das, was angeblich oder tatsächlich (nicht nur die Jugend) verdirbt:
Restriktive Rauchverbote, hohe Besteuerung bestimmter Alkoholika (zu meiner
Zeit hieß die Einstiegsdroge noch Eierlikör) und Tabakwaren, Zensur
von Internetangeboten (mal ganz langsam zum Mitschreiben für unsere Polit-Profis:
Wenn ich versuche, einer bestimmten Gruppe in unserer Gesellschaft Fesseln anzulegen,
fessle ich zwangsläufig einen anderen Teil mit); manche Ideen gemahnen
unangenehm an die "zero-tolerance"-Politik amerikanischer Schulen.
Ursachenforschung? Was für Ursachen? Wenn jemand in unserer Gesellschaft
nicht mehr funktioniert, ist er selbst Schuld. Äußere Ursachen gibt
es keine. Basta.
Übrigens sind inzwischen selbst Computerzeitschriften gezwungen, bei jeder
beigelegten Shareware-CD darauf hinzuweisen, dass sie keine jugendgefährdenden
Inhalte enthält, um nicht auf dem Index zu landen. Kein Witz: Ohne diesen
Hinweis dürfte man Fachzeitschriften wie Macwelt oder c't erst ab 18 kaufen!
Ja, da haben wir wirklich ernsthafte Probleme in unserem Land!
Keine Lösungen
Welcher Politiker hat es bisher gewagt, all diese reichlich unangenehmen Tatsachen
auszusprechen? Einer hat es andeutungsweise mal versucht, das war der ehemalige
US-Präsident Jimmy Carter, der vor den Folgen von Peak Oil gewarnt hatte
(die USA hatten das Ölfördermaximum bereits 1970 erreicht) und entsprechende
Gegenmaßnahmen in seiner zweiten Amtszeit in Angriff nehmen wollte. Vermutlich
war genau das einer der Gründe, weshalb er nicht wiedergewählt wurde.
Auch wenn unsere Politiker im Allgemeinen zu einem äußerst schlechten
Langzeitgedächtnis neigen das scheinen sie sich gemerkt zu haben.
Also erzählen sie uns munter weiter, dass ein kräftiges Wirtschaftswachstum
alle unsere Probleme lösen wird obwohl es zu den Hauptursachen unserer
Probleme gehört, dass wir über Jahrzehnte ein Wachstum hatten. Die
ebenfalls sehr beliebten Beschwörungen eines Wachstums in Verbindung mit
kommenden technischen Entwicklungen, die dessen Auswirkungen mildern würden,
klingen indes wie die Unterhaltungen, die in manchen Luftschutzkellern im April
1945 geführt wurden: "Bald setzt der Führer seine neuen Wunderwaffen
ein, dann gewinnen wir den Krieg und alles wird gut!"
Wo bleiben sie denn, die Wunderwaffen, die uns vom Öl unabhängig machen?
VW hat zwar alibihalber einen (völlig familienuntauglichen) Kleinwagen,
der mit drei Litern Sprit auskommt, konzentriert die Konzernenergie ansonsten
aber lieber auf Projekte wie den Phaeton mit einem Verbrauch von 14,5 Litern
(Werksangabe). DaimlerChrysler ist zuversichtlich, ein serienreifes Brennstoffzellenauto
bereits 2015 auf den Markt bringen zu können, schweigt sich aber dazu aus,
woher die Energie zur Wasserstoffherstellung kommen soll. Zu diesem Zeitpunkt
dürfte der Ölpreis selbst unter optimistischen Annahmen im dreistelligen
Bereich liegen. Alternative Energieerzeugung wird nach der nächsten Wahl
voraussichtlich weiter weg vom Mainstream sein, als uns lieb sein kann, hatte
Angela Merkel doch schon eine Renaissance der ach so billigen Atomkraft angekündigt.
Wirtschaftliche Auswege, wie sie schon Silvio Gesell vor hundert Jahren aufzeigte,
werden von heutigen Politikern ignoriert falls sie den Namen Gesell überhaupt
schon einmal gehört haben. Business as usual. Stur geradeaus ohne Ideen,
ohne Visionen, ohne Perspektiven. Was zählt, ist Machterhalt und Shareholder
Value, und beides ist nur durch den Status quo gewährleistet. Mit anderen
Worten: Heute stehen wir am Rande eines Abgrunds, aber Morgen werden wir schon
einen Schritt weiter sein.
Dilemma
Wie verhalte ich mich als Vater meinen Kindern gegenüber? Verheimliche
ich ihnen die Ängste, die auch mich umtreiben, die mich öfter nachts
stundenlang die Ziffern des Projektionsweckers an der Decke beobachten lassen?
Und lasse sie selbst herausfinden, wie es um die Welt, in die sie von ihren
Eltern gesetzt wurden, steht? Und riskiere es, unglaubwürdig zu werden?
Oder lasse ich meine Kinder von meinen Sorgen wissen und riskiere es, diese
zu übertragen?
Man sollte sich vor Augen halten, dass mit unseren Kindern wahrscheinlich die
letzte Generation aufwächst, die das Ruder noch herumzureißen vermag.
Das müsste ein gewaltiger Anreiz sein, alles, was nur geht, in Bildung
und Wohlergehen unserer Kinder zu investieren. Was wir angesichts der drohenden
Probleme brauchen, sind Kinder, die ihre Kreativität voll entfalten können,
auch unangepasste Querdenker. Nur ist leider unsere Erziehung, unser Bildungswesen,
die Wirtschaft im Grunde nahezu jeder gesellschaftliche Bereich
darauf aus, angepasste, "funktionierende" Menschen heranzuzüchten,
die das System möglichst nicht in Frage stellen.
In Hinblick auf das, was auf die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten
zukommt, kann man nur hoffen, dass diese Erziehung zur Anpassung, zum "Funktionieren",
versagt. Denn wenn wir überleben wollen, müssen Veränderungen
auch da stattfinden, wo sie heute noch mit allen Kräften verhindert werden
bis hin zu den Medien und den Währungssystemen.
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