Altersheim für Brennstäbe

© Eric Fricke

Erdbeben statt Tourismuswerbung
Wer von euch, Freunde und Nachbarn, unseren Bürgermeister kennt, weiß, dass Richard Leibinger im Grunde ein sensibler Mensch ist. Kein Wunder, dass ihm die Finanzlage Waldkirchs manch schlaflose Nacht bereitet. Dabei wäre doch die Lösung ganz einfach: Lieber Richard, streiche sämtliche Ausgaben für die Tourismuswerbung. Statt dessen verursachst Du einmal im Jahr ein Erdbeben der Stärke 5,4.

Die weltweite Medienwirkung war unglaublich: Sender aus New York brachten Berichte, ja, selbst im brasilianischen Fernsehen wurde der Name unseres Gemeinwesens mehrfach erwähnt, wie mir ein Bekannter aus Belo Horizonte berichtete. Auch verschiedene Touristenzentren konnten sich der Wirkung nicht entziehen: In Hindelang im Allgäu wurde mir erzählt, dass etliche Kurgäste in der Nacht zum 5. Dezember 2004 durch die Erschütterungen im Kandelwald erwachten. Ein Erdbeben dieser Stärke entspricht in der Energiefreisetzung einer mittleren Atombombe von etwa einer halben Megatonne. Womit wir beim Thema wären.

Geologische Jugenderinnerungen
Der Oberrheingraben, der vor etwa 50 Millionen Jahren entstand, ist bis heute eines der seismisch aktivsten Gebiete auf diesem Planeten. Damals faltete sich ein gewaltiges Gebirge auf, das schließlich zusammenbrach und das Rheintal hinterließ. Hm, schon falsch. Täler entstehen durch Flüsse oder Gletscher. Die Rheinebene ist jedoch ein Grabenbruch. Während das Elsass sich in Richtung Süden bewegt, werden wir Badener von der afrikanischen Platte nach Norden bewegt. Ich möchte die Geschichte des Rheingrabens hier nicht weiter vertiefen, da sonst meine Stammleserin Anja O. aus Winden wieder behauptet, ich schwelgte in Jugenderinnerungen, aber angesichts der wilden geologischen Vergangenheit der Regio lässt sich möglicherweise leichter ermessen, wie sehr wir davon heute noch betroffen sind. Vielleicht nur ein paar Eckpunkte: Der Schönberg gehört nicht zum Schwarzwald, sondern besteht aus einer Platte, die sich unter dem Druck aus dem Erdinneren aufgerichtet hat. Da die Erdkruste hier sehr dünn ist – teilweise gerade einmal um die 20 Kilometer –, bekamen wir gleich noch mehrere Vulkane frei Haus geliefert. Dazu gehören jenes nette Hügelchen namens "Lehener Berg" zwischen den Freiburger Stadtteilen Landwasser und Lehen und natürlich – der Weinkenner frohlockt – der Kaiserstuhl.

Der Rhein nahm diesen Graben zum Anlass, nicht mehr durch die Burgundische Pforte ins Mittelmeer zu fließen, sondern seinen Weg entlang der fragilsten Stelle zwischen Elsass und Baden zu nehmen, die zu der Zeit aber noch nicht so hießen. Etwas nördlich der Gegend, wo ein paar Millionen Jährchen später Freiburg gegründet wurde, musste der Rhein einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, weil der Kaiserstuhl im Wege stand. Dies ist halt so eine Angewohnheit von Flüssen, ihren Weg gerne auf Bruchstellen zu nehmen, da diese am tiefsten liegen. Wasser fließt bekanntlich eher selten bergauf, sonst müsste man statt von "physikalischen Gesetzen" von "physikalischen Richtlinien" sprechen. Und just an diesen Schwachpunkten der Erdkruste werden mit Vorliebe Atomkraftwerke gebaut – zum Beispiel jenes in Fessenheim, der Bevölkerung des Dreiecklandes auch unter dem Spitznamen "Haarriss-Burg" bekannt, in Anlehnung an jenes amerikanische Atomkraftwerk in Harrisburg, USA, das beinahe zum Tschernobyl-Vorläufer geworden wäre.

Was ist das nur für eine fürchterliche Fehlplanung, ein AKW an eine solch instabile Stelle zu setzen? Ehrlich gesagt, es ist kein Pfusch, sondern pure Absicht. Ein AKW benötigt Kühlwasser. Das liefern die Flüsse. Und Flüsse fließen bekanntlich gerne... nun ja, siehe oben.

Links, rechts, runter
Fessenheim ist ein sehr gepflegter Ort im Elsass. Schmucke Häuschen, Straßen in einwandfreiem Zustand, gehobene Infrastruktur. Bösartige Leute behaupten, das sei das Maulpflaster der EDF, der französischen Betreibergesellschaft des AKW Fessenheim. Das ist aber bestimmt nicht wahr, denn in Fessenheim findet man kaum jemanden, der gegen das Atomkraftwerk vor der Haustüre ist. Hm, der letzte Satz kommt mir etwas komisch vor, aber ich kriege noch raus, weshalb.

Betrachten wir also mal weiter die Umgebung des dienstältesten französischen Kernkraftwerks, vielleicht einmal vom Gelände aus. Mit einer Besuchergruppe, erzählte mir neulich jemand, käme da jeder Trottel rein, sogar ich. Da steht man also am westlichen Rheinufer und bewegt sich mitsamt der Atomanlage nach Süden, während sich die NATO-Rampe am Ostufer nach Norden bewegt. Immerhin gibt es aber auch eine gemeinsame Bewegungsrichtung, nämlich nach unten, und zwar jährlich um einen guten Millimeter. Dieses Absacken des Oberrheingrabens klingt nach wenig, aber übertragen wir das mal auf unseren Hausberg Kandel: Würde der jedes Jahr um diesen Betrag schrumpfen, könnten wir die Pyramide von Waldkirch aus in etwa einer Million Jahre ebenerdig erreichen. Sie finden das lächerlich? Ich nicht – zumindest nicht unter dem Aspekt, dass die Brennstäbe von Fessenheim mindestens so lange in einem sicheren Endlager zubringen müssen, bis der Kandel zwanzig Meter niedriger geworden ist.

Vielleicht sollten wir uns besser nicht so lange hier aufhalten? Man hört ja ständig von Pannen. Obwohl, soll ja immer alles ganz harmlos sein. Mal hier ein Riss, da ein Leck und auch mal ein paar verstrahlte Arbeiter. Aber alles im ungefährlichen, ja möglicherweise gar gesundheitsfördernden Bereich. Und wenn da mal jemand Krebs bekommt? Ich bitte Sie, Freunde und Nachbarn, wir alle wissen doch, dass Franzosen wie die Schlote Gauloises rauchen und wie die Senklöcher Rotwein saufen. Da interessiert es doch keinen mehr, ob so ein Krebspatient mal in Fessenheim Brennstäbe poliert hat.

Basel platt, Fessenheim platt
Rund zwanzig Zwischenfälle gab es in den vergangenen Jahren in Fessenheim, bis hin zum Ausfall der Kühlung. Die deutschen Behörden wurden davon aber meist schon ein paar Wochen danach verständigt. Beim Erdbeben am 5. Dezember lief der Betrieb übrigens planmäßig (was immer das heißen mag) weiter, denn, so der Betreiber, das AKW sei erdbebensicher. Da müsse schon eines der Stärke 6 kommen, bis es Probleme gäbe. 5,4 war schon mal nicht schlecht, aber das Epizentrum lag nicht unter der Bruchzone, sondern unter massivem Granit. In der Rheinebene wäre so ein Beben nicht so glimpflich abgegangen, denn dort besteht der Boden aus einer relativ lockeren Füllung (sonst läge die Gegend sogar noch mehrere Kilometer tiefer). Stärke 6? Hier bei uns? Im Leben nicht! Schauen wir uns doch mal um: Jahrhundertealte Städte, soweit das Auge reicht! Ein Beben dieser Stärke kommt, statistisch gesehen, alle 800 Jahre in der Rheinebene vor. Gibt es etwa hier in der Regio irgendeine Stadt, die schon einmal von einem Erdbeben zerstört worden wäre?

Es gibt. Im Jahre 1356 wurde Basel durch ein Erdbeben völlig verwüstet. Geologen schätzen, dass es eine Stärke von 6,5 hatte – mehr als zehnmal so stark wie das vom 5. Dezember. Möglich, dass das nächste große Beben tatsächlich erst in anderthalb Jahrhunderten stattfindet. Vermutlich werden wir es erst erfahren, wenn es soweit ist, denn die Zwerghasen meiner Söhne scheinen lediglich eine Vorwarnzeit von ein bis zwei Stunden zu haben. Und wenn sie das nächste Mal wie die Wilden durch den Käfig brettern, muss das durchaus nicht auf ein drohendes Erdbeben hinweisen, sondern mag seine Ursache vielleicht in Verdauungsstörungen haben.

Der Schweizerische Erdbebendienst in Zürich nimmt das Risikopotenzial ernst: Basel zähle weltweit zu den zehn Städten (unter ihnen San Francisco) mit dem größten Risiko. Vor etwa zehn Jahren schätzte die Schweizer Rück den Schaden eines erneuten 6,5er-Erdbebens alleine im Großraum Basel auf 50 Milliarden Franken. Das Ausmaß einer solchen Katastrophe sei kaum vorstellbar: Riesige Treibstofflager, die Chemieindustrie ... das Szenario beinhaltete nicht nur die Zerstörung von Wehranlagen am Hochrhein, sondern auch den Bruch des Schluchsee-Staudamms im Schwarzwald. Danach, so das Schweizer Versicherungsunternehmen, würde die Stadt "aus Rentabilitätsgründen nicht mehr aufgebaut werden."

Aber bei dem Optimismus, den die EDF verbreitet, dürfte das knapp 30 Kilometer nördlich von Basel gelegene AKW Fessenheim selbst eine solche Katastrophe unbeschadet überstehen – inklusive einer riesigen Flutwelle, die die gesamte Produktpalette der Basler Chemieindustrie enthält. Schließlich sprachen die Schweizer Fachleute in dem Zusammenhang in erster Linie von den Atomkraftwerken am Hochrhein, die in einer solchen Situation gefährlich würden, oder?

Die Wahrscheinlichkeit eines Bebens dieses Ausmaßes liegt, so die Forscher, "im mittleren Bereich", was immer das heißen mag. Für so ein Altersheim für Brennstäbe wie das in Fessenheim ist diese Wahrscheinlichkeit aber definitiv viel zu hoch.

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