Entwurzelt

© Eric Fricke

Stellen Sie sich vor, Freunde und Nachbarn, ein französischer Künstler träte hier bei uns in Waldkirch auf und verkündete nach dem dritten oder vierten Chanson in gebrochenem Deutsch, dass er zwar unsere Sprache nicht beherrsche, dafür aber einen Golf fahre. Na ja, höfliches vereinzeltes Beifallklatschen, netter Versuch. Was wollte uns der Monsieur aber damit sagen?

Im Juli gastierte NX4U in Frankreich. Dort, in einem kleinen Dorf namens Fleurey-lès-Lavoncourt, sollten wir ein deutsch-französisches Straßenfest musikalisch gestalten. Nun muss ich zu meiner Schande gestehen, dass mein Französisch nicht gerade berühmt ist – immerhin bin ich der Enkel einer Französin! Nach ein paar Stücken brachte ich aber mit akzeptabler Aussprache folgenden Satz zustande: "Je ne parle pas du Français – j'ai perdu mon dictionnaire. Mais je conduis un Citroën!" Zu deutsch: "Ich spreche kein Französisch – ich habe mein Wörterbuch verloren. Aber ich fahre einen Citroën!" Das Ergebnis? Tosender Applaus, hochgereckte Daumen, "Bravo"-Rufe. Es fehlte nur noch, dass die Marseillaise angestimmt wurde. Hey, netter Typ, dieser langhaarige Deutsche. Singt zwar wie ein fer de frottement, aber, amis et voisins, er fährt ein französisches Auto!

Haben Sie gemerkt, worauf ich hinaus möchte? Oder noch ein Beispiel? Ein paar Meter weiter, bei mir in der Siensbacher Straße, leben ein paar sehr nette Nachbarn. Ja, gut, in unserer Ecke sind eigentlich alle sehr nett. Ich spreche jetzt von den Bernasconis, Sie wissen ja, Bergwacht und so. Da hängt am Schweizer Nationalfeiertag eine rote Flagge mit weißem Kreuz. Die Bernasconis stammen bekanntlich aus der Heimat Wilhelm Tells. Nun stellen Sie sich einmal vor, ich würde am 3. Oktober eine schwarz-rot-goldene Fahne zum Küchenfenster hinaushängen (da, wo während der Fasnet die blau-gelbe hängt). Man würde mich schlicht für verrückt erklären. Eher würde man es akzeptieren, wenn ich am 14. Juli ein Feuerwerk abbrennen würde: "Na ja, der Typ hat französische Vorfahren und so. Die Gallier sind da halt ein bisschen anders drauf."

Oder wann haben Sie zuletzt die deutsche Nationalhymne gesungen? Entschuldigung, war nicht so gemeint. Ich wollte nur sagen, dass die Amerikaner keine Hemmungen haben, von detonierenden Bomben zu singen. In Deutschland singt man nicht mal mehr alle Strophen, seit man festgestellt hat, dass die Maas durch die Niederlande und die Memel durch Weißrussland fließt. Die Etsch findet man übrigens in Italien, der Große Belt ist dänisches Seegebiet. Da war man wohl etwas zu großzügig. Na ja, bekanntlich schwebte Hitler ein Reichsgebiet vom Atlantik bis nach Russland vor, da war dann das Ausland verständlicherweise eine Weile nicht mehr sehr gut auf Deutschland zu sprechen.

Als sich die Beziehungen wieder normalisiert hatten, stellten wir fest, dass wir auch ganz gut ohne Hurra-Patriotismus leben konnten. Man besann sich auf Tugenden, die allgemein anerkannt waren: Fleiß und Ordnung. Darüber mochte man anderswo seine Witze machen, aber im Grunde dürften unsere Nachbarn recht froh über diesen Sinneswandel gewesen sein. "Made in Germany" wurde zum Qualitätssiegel, und hey, wir Deutschen bauten die besten Autos der Welt! Und weil das noch vor der "Geiz-ist-geil"-Ära war, durften die auch ruhig etwas mehr kosten. Außerdem, wir hatten's ja!

Nun, Freunde und Nachbarn, während sich die Verhältnisse nach außen besserten, ja, selbst zum ehemaligen "Erbfeind" Frankreich sehr freundschaftlich wurden, gab es im Inneren nie eine Normalität. Vielleicht wäre auch das nicht zu tragisch, wenn uns unsere Wirtschaftsbosse dies nicht in extremster Form vorleben würden: "Made in Germany" ist tot, es lebe die Produktion in Niedriglohnländern. Zitat aus einer DIHK-Studie: "Die Quote derjenigen Unternehmen, die sich in diesem Jahr außerhalb Deutschlands engagieren wollen, steigt spürbar auf 43 Prozent von zuletzt 38 Prozent an." Und es sind nicht nur die Konzerne, die abwandern, inzwischen folgt auch der Mittelstand. Aber, Gott, ja, weshalb sollten die es denn anders halten als die Innenministerien der meisten Bundesländer? Die haben ja auch keine Hemmungen, zwecks Erwerb von Polizeiuniformen Geschäftsbeziehungen zu einer Diktatur aufzunehmen! Richtig gelesen, Freunde und Nachbarn: Nahezu alle Bundesländer ordern die Hemden für ihre Polizeibeamten in Weißrussland!
Verstehen Sie mich nicht falsch: Nichts gegen internationale Handelsbeziehungen! Ich sehe grundsätzlich erst einmal kein Problem darin, eine Ware zu importieren, die im Ausland bei gleicher Qualität günstiger hergestellt werden kann – und das womöglich noch unter fairen Bedingungen. Es ist nämlich keine Kunst, billig zu produzieren, wenn man Klamotten und Modeaccesoires von Kindern fertigen lässt. Dieser Aspekt könnte im allgemeinen Schnäppchenfieber durchaus unter die Räder kommen. Und nebenbei: Was wird Deutschland irgendwann noch exportieren, wenn alle Produzenten im Ausland sind? Und noch nebenbeier: Man muss auch nicht unbedingt Dikaturen bei seinen Außenhandelsgeschäften stützen.

Angenommen, der PSA-Konzern, also Peugeot und Citroën, würden beschließen, ihre Werke in Frankreich dichtzumachen und fürderhin nur noch in Niedriglohnländern zu produzieren – es wäre anzunehmen, dass die aufgebrachte Bevölkerung unter Absingen der Marseillaise die Konzernzentrale stürmt. Dass das Unternehmen schon seit Ende der Siebzigerjahre seine Transporter gemeinsam mit Fiat in Italien baut, wird eben noch geduldet; immerhin sind die Entwicklungskosten für Nutzfahrzeuge in Relation zur verkauften Stückzahl sehr hoch. Die Motoren für die PSA-Transporter werden aber immerhin in Frankreich entwickelt und produziert; Fiat rüstet die Ducato-Modelle mit eigenen Triebwerken aus. Etwas Ähnliches gibt es auch bei Renault. Vielleicht haben Sie sich schon einmal darüber gewundert, dass Sie von einem Renault-Transporter überholt wurden, auf dem der Nissan-Schriftzug prangte. Nun, Nissan gehört Renault, und weshalb sollte man in Japan noch Geld für eine eigene teure Transporterentwicklung ausgeben? Wie dem auch sei, das Kerngeschäft läuft in Frankreich, und man konnte bis dato nichts darüber vernehmen, dass die französischen Autobosse lautstark – und womöglich im Ausland! – über ihr Land herzogen. Das scheint eine typisch deutsche Eigenart zu sein.

Schauen wir wieder auf diese Seite des Rheins: Hier breitet sich allmählich eine gewisse Lähmung aus. Ursache ist einesteils ein Gefühl der Hilflosigkeit der Politik und der Wirtschaft gegenüber; es liegt auch schlicht an der – nicht unbegründeten – Existenzangst. Aber es fehlt Otto Normalverbraucher in Deutschland auch jene gewisse Normalität im Verhältnis zu seinem Land, die ihn befähigen könnte, konstruktiv zu sein. Wir haben hier unkreative Bosse, die nur im Rahmen von Gewinnsteigerungen denken, ohne jegliches Verantwortungsgefühl für den – ich benutze das Wort jetzt mal absichtlich – heimatlichen Standort. Wir haben Politiker, denen nichts anderes einfällt, als unter dem Vorwand von Reformen den Status quo für die Wirtschaft zu zementieren. Also schaut auch der Großteil der Bevölkerung zu, wie ihr der Boden unter den Füßen wegbricht. Es kämpft jeder für sich. Es gibt kein "wir", es gibt keine Solidarität. Die Politiker sind nicht solidarisch, die Bosse sind nicht solidarisch, wir sind es nicht.

Wir sind entwurzelt: Das Land, in dem wir leben, hat es vor 1990 in dieser Form nicht gegeben. Das Geld, das wir auf den Ladentisch oder den Tresen in der Stammkneipe legen, ist immer noch so fremd, dass wir die Münzen rumdrehen müssen, um auf die Zahl zu schauen. Eine halbgare Rechtschreibreform hat für eine Entfremdung von der eigenen Sprache gesorgt. Die Werte, die in Nachkriegsdeutschland den ungesunden Patriotismus ersetzt hatten, gelten nicht mehr. Sie wollen mit Fleiß und Anstand noch etwas erreichen? Zum Totlachen! Damit kommen Sie doch heute auf keinen grünen Zweig mehr! Ehrlichkeit? Haha, was meinen Sie, was die Ossis von den blühenden Landschaften halten, die ihnen Helmut Kohl versprochen hatte?
Wir konnten uns an unserem Reichtum benebeln, an den Schwarz-Weiß-Malereien des kalten Krieges, die die Welt so einfach und greifbar in Gut und Böse unterteilte, an der Einfachheit unserer Werte – aber allmählich nähern wir uns einem Zustand, den Autor Terry Pratchett als "knurd" bezeichnet; einem Zustand, der das Gegenteil von "besoffen" ist – nicht "nüchtern", sondern weit darüber hinaus. Und dieses Gefühl, "knurd" zu sein, macht uns Angst – just in einer Zeit, in der die Politiker weltweit ohnehin mit der Angst operieren: Jeder von uns kann das nächste Terroropfer sein! Angst und Pessimismus gehen Hand in Hand. Keine gute Mischung in schweren Zeiten.

Kommen wir noch einmal auf die Sprache zurück: Der Szeneslang entfloh uns und feiert mittlerweile als "Denglisch" fröhliche Urständ. Was im gesprochenen Deutsch teilweise durchaus bereichernd, originell oder zumindest witzig daherkommt, wird in schriftlicher Form zuweilen zur Katastrophe und sorgt für eine weitere Entfremdung. Ich erinnere mich an den Fall eines Mannes, der sich weigerte, seine Telefonrechnung zu bezahlen mit der Begründung, er könne kein Englisch. Er wisse nicht, was "City call" heiße und sähe daher keinen Anlass, dafür zu bezahlen. Der Mann bekam vor Gericht Recht. Hier eine Sammlung aus den ersten paar Seiten der Kundenzeitschrift eines deutschen Unternehmens: All-inclusive-System, CallCenter, Fit for Future, Full-Multi-Franchiser, Best Practices, ServiceCenter, Award, Showroom, Retail-Concept, Basics, Controlling, Full-Service, Performance, Befragungscluster. Und diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. Wie soll sich der Durchschnittsbürger ohne Wörterbuch damit identifizieren (wenn es ihm denn überhaupt etwas nützt. Mit dem Substantiv "Handy" zum Beispiel kann kein Angelsachse etwas anfangen)? Nebenbei tauchen in der Wirtschaftswelt genau jene Begriffe wieder auf, von denen wir seinerzeit sprachlich ganz bewusst abrückten. Da ist die Rede vom Außendienstler "draußen an der Front", vom "Kampf" um die Marktanteile, vom "Preiskrieg", eben all das an militärischem Vokabular, was wir seinerzeit ganz "cool" beiseite schoben.

Die Selbstidentifikation erfolgte in Deutschland lange Jahre im Wesentlichen über die Arbeit. Wohl auch ein Grund, weshalb Deutschland in musikalischen Sektor so lange brauchte, um mit anderen Ländern gleichzuziehen: Kunst ist im landläufigen Sinne keine Arbeit, da mag ein Künstler noch so schuften. Ein Grund übrigens, weshalb viele hervorragende deutsche Musiker ins Ausland gingen – und dort prompt Erfolg hatten. Die Identifikation mit der Arbeit wurde auch stets von den Arbeitgebern gefordert – vielleicht fühlten wir uns von daher immer etwas mit den Japanern verbunden? Was aber, wenn die Arbeit wegfällt? Freilich, ich persönlich hätte auch sonst genug zu tun: die Familie mit zwei Kindern, meine künstlerische Arbeit, Freundschaften pflegen, Wandern... dummerweise muss man halt auch noch von etwas leben, das ist der Knackpunkt. Aber, wie gesagt, wer sich in erster Linie über seine Erwerbstätigkeit definiert, hat im Falle der Arbeitslosigkeit nicht nur ein materielles, sondern auch ein psychisches Problem. Hier gilt es, umzudenken. Das werden die Arbeitgeber natürlich nicht gerne hören. Von deren Standpunkt aus leben wir ohnehin im kollektiven Freizeitpark mit viel zu viel Urlaub. Andererseits – lebt denn nicht eine gewaltige Branche von unserer Freizeit? Ja nun, allen kann man's nicht Recht machen...

Wir werden von den Widersprüchen aufgerieben. Der Staat kann nicht mehr so weiter, es muss alles eine Nummer kleiner werden, mehr Eigeninitiative, etwas bescheidener. Nun gut, aber angenommen, wir fahren alles runter – dann fahren wir auch den Konsum runter. Fragen Sie mal die Bosse, was die davon halten.

Es kommt noch ein Punkt hinzu, den unsere Politiker und Wirtschaftsbosse gerne übersehen: Die materiellen Verhältnisse in einer Gesellschaft beeinflussen ihr Denken und Handeln. Darin dürfte mir jeder zustimmen, selbst wenn er herausfindet, dass das der olle Marx vor 150 Jahren so ähnlich auch schon gesagt hat. In Ostdeutschland, wo die Arbeitslosigkeit in manchen Gegenden bei über zwanzig Prozent liegt, machen sich daher schon kräftig die Leute von der anderen Seite des politischen Spektrums breit, die versuchen, den Menschen einfache Lösungen anzubieten – einfachere noch, als uns unsere gewählten Politiker in Komplizenschaft mit den Wirtschaftsführern schmackhaft zu machen versuchen.

Ja, in der Tat, die Verhältnisse sind ungesund. In dieser Situation können wir keine "Reformen" brauchen, die die bestehenden Verhältnisse festigen (mal abgesehen davon, dass das dann auch keine sind). Mit Reformen, die die Macht der Unternehmen stärken, nehmen sich die Politiker über kurz oder lang endgültig ihre eigene Macht – oder das, was noch davon übrig ist. Was wir also bräuchten, wären echte Reformen, die auch die beteiligen, die sich das leisten können.

Eine Alternative wäre, abzuwarten, bis der Kapitalismus unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht – und dabei zu hoffen, dass man nicht von den Trümmern erschlagen wird. Auch nicht das Wahre.

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