Stoppt Boelkestein!

© Eric Fricke

Valium vor dem Lesen
Herrje – da regen sich die Leute auf, weil Politiker vom Volkswagen-Konzern bezahlt werden. Dabei mischt das VW-Management dank Peter Hartz doch ohnehin schon lange aktiv in der Politik mit. Nein, diese Meldung kann mich kaum noch aus der Ruhe bringen – zumal unter dem Aspekt, dass das alles möglicherweise noch viel schlimmer wird. Vielleicht, Freunde und Nachbarn, sollten Sie vor dem Weiterlesen erst einmal ein wenig Valium einnehmen.

Meine Güte, was ist das für ein Lärm da draußen? Und der Gestank – nicht zum Aushalten! Mal nachschauen... ach so, es ist der Willi von schräg gegenüber. Er fährt gerade mit seiner Klapperkiste auf den Parkplatz. Früher hatte er einen Golf, aber na ja, Sie wissen schon, Hartz und so. Ersparnisse hatte Willi keine, als er Arbeitslosengeld II beantragte, aber sein Golf war erst vier Jahre alt. Vom Großteil des Verkaufserlöses musste Willi seine Familie ernähren, aber 5.000 Euro durfte er behalten und sich davon ein neues Auto kaufen. Na ja, war ein Sonderangebot, wie es scheint. Das Bremspedal geht fast aufs Bodenblech, der Auspuff ist ein Sieb und entlässt blaue Wolken in die Vorgärten und wenn man die Kupplung tritt, schaltet sich das Fernlicht ein. Aber immerhin, ganz frischer TÜV. Sehen Sie die nagelneue Plakette auf dem rostigen Nummernschild? Wie? Sie glauben das nicht?

TÜV für Schrottkisten?
Nun, stellen Sie sich vor, die Szene spielte sich im Jahr 2010 ab. Wenn EU-Kommissar Frits Boelkestein sich mit seiner Richtlinie durchsetzt – weshalb sollten wir dann noch zum strengen deutschen TÜV? Dieser nette Typ, der seine Werkstatt im Industriegebiet aufgemacht hat, macht die Hauptuntersuchung für ein Viertel des Preises. Während man gemütlich einen Gratiskaffee schlürft, macht sich der Meister am Auto zu schaffen. Obwohl, Meister ist er ja nicht. Die ganze Belegschaft besteht aus ungelernten Leuten, die die Agentur für Arbeit angekarrt hat. Das Unternehmen hat seinen Sitz in irgendeinem Dorf nahe der östlichen EU-Grenze. Glaube ich jedenfalls; der Name auf dem Briefbogen enthält viele Y, W und durchgestrichene Z, von exotischen diakritischen Zeichen ganz abgesehen. Dafür, dass die Leute nur fünfzig Cent in der Stunde verdienen, bemühen sie sich ganz ordentlich. Na ja, ist klar, wer nicht spurt, fliegt fristlos. Und ein paar Mängel am Auto sind auch nicht so tragisch. Was sprachen Sie eben von Straßenverkehrszulassungsordnung? Vergessen Sie's. Die gilt nur für inländische Prüfunternehmen. Natürlich dürfen Sie nicht mit einer Schrottkiste herumfahren, aber was glauben Sie, wieviele Polizisten richtig Ahnung von Autos haben? Und überhaupt, das Auto ist nach den Richtlinien des Herkunftslandes der Prüfstelle getestet worden – da hat nationales Recht gar nichts zu suchen! Nun, es mag sein, dass die deutsche Regierung (schon wegen unseres Auto-Kanzlers) zwecks der Verkehrssicherheit noch die Notbremse zieht – aber ansonsten könnten solche Szenarien durchaus Realität werden.

Briefkasten in Nyíregyháza oder Hajduböszörmény
Was aber wollen Frits Boelkestein und seine Kommission nun aber (mit tatkräftiger Unterstützung auch der deutschen Regierung) bis 2010 erreichen? Es geht um nicht weniger als um die Abschaffung des nationalen Rechts durch das Herkunftslandprinzip bei Dienstleistungen. Mit anderen Worten: Es genügt ein Briefkasten in einem EU-Land, das einem in Punkto Tarifverträgen, Qualifikationsanforderungen und Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz die wenigsten Hindernisse in den Weg legt. Dann gründet man, sagen wir mal, hier in Waldkirch, eine Niederlassung und werkelt nach dem Recht des "Heimatlandes" munter los – ohne Auflagen und Kontrollen, ohne vorherige Anmeldung, Registrierung oder Genehmigung und ohne die Pflicht zur Aufbewahrung von Sozialversicherungsunterlagen. Die Sozialversicherer fragen sich natürlich, wie da eine Sozialversicherungspflicht nachgewiesen werden kann. Darauf gibt es eine einfache Antwort: Gar nicht.

Hartz IV für alle
Und natürlich können da die Löhne gewaltig unter deutschem Niveau liegen; sozusagen Hartz IV für alle, ohne Anforderungen an Gemeinnützigkeit. Apropos gemeinnützig: Die Privilegien gemeinnütziger Betriebe, als da wären Subventionen, Steuerbefreiungen oder die Abzugsfähigkeit von Spenden, tragen dann natürlich zur Diskriminierung kommerzieller Anbieter bei. Da nicht zu erwarten ist, dass Spenden an kommerzielle Unternehmen steuerlich abzugsfähig sein werden (obwohl mich in dieser Hinsicht nichts mehr überraschen würde), dürften diese Privilegien gekappt werden. Wie da beispielsweise eine Behindertenwerkstatt noch überlebensfähig ist, mag man sich schon fragen, aber nun ja, das ist Kapitalismus, und der stand dem Sozialdarwinismus schon immer nahe.

Überhaupt dürften die bei einer Realisierung der Richtlinie zu erwartenden Klagen auf Gleichstellung schon bald Wirkung zeigen, nämlich in Form einer zunehmenden Verschlechterung von Standards und Normen. Aber freut euch, Freunde und Nachbarn, die Boelkestein-Kommission hebt schon mahnend den Zeigefinger: Zum Ausgleich sollen die Anbieter freiwillig die Qualität ihrer Dienstleistungen sichern! Na prima, da sind wir ja alle wieder beruhigt!

Atomkraft und Heiratsvermittlungen
In welche Bereiche die Dienstleistungsrichtlinie eingreifen soll, zeigt ein Blick in den Katalog der Kommission: Unternehmensberatung, Veranstaltung von Messen, IT-Dienstleistungen, Vermietung von Kraftfahrzeugen, Zertifizierung, Prüfung, Wartung, Reisebüros, Gebäudemanagement, Fremdenverkehr, Werbung, Sicherheitsdienste, Personalagenturen inkl. Zeitarbeitsvermittlungen, audiovisuelle Dienste, Handelsvertreter, Freizeit (Sportzentren, Freizeitparks), Rechts- und Steuerberatung, Gesundheitsdienstleistungen, Immobilienmakler, häusliche bzw. Pflegedienste, Baugewerbe und Architekten, reglementierte Berufe (Medizin, Rechts-/Steuerberatung) und der Handel. Ich überlege gerade, ob die noch etwas vergessen haben. Interessanter indes ist die Liste von Diensten, die einige Mitgliedsstaaten von der Richtlinie ausnehmen lassen wollen. In Österreich gehört dazu die soziale Sicherung, Deutschland mag eine Ausnahme bei Waffen und Pyrotechnik sowie bei Aufgaben in staatlicher Verantwortung, Spanien bei der Atomenergie und die Italiener – man staune! – bei Heiratsvermittlungen. Zu den weiteren Ausnahmen, die von einigen Ländern für sich beantragt werden, gehören das Gesundheitswesen, das Steuerwesen, staatlich finanzierte Tätigkeiten im Bereich Forschung, Erziehung und (Aus-)Bildung, die Luftüberwachung oder auch – wie im Falle der Niederlanden – medizinische und ethische Fragen.

Stoppt Boelkestein!
Womöglich zeigen die gewünschten Ausnahmen am drastischsten, wo die Reise hingehen soll. Die Verabschiedung der Boelkestein-Richtlinie wäre ein dramatischer Eingriff in das gesamte Wirtschafts- und Sozialgefüge. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Richtlinie bis dato nicht öffentlich verhandelt worden ist – es könnten sich am Ende womöglich noch Betroffene zur Wehr setzen! Und betroffen wären wir alle. Die IG Bauen-Agrar-Umwelt erwartet eine "riesige Ausflaggungswelle von Dienstleistern in Länder mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen".

Mit Sicherheit ist auch mit einem Anstieg der legalisierten Scheinselbstständigkeit (Neudeutsch: "Ich-AG") zu rechnen. Logisch: In der Schönen Neuen Welt des ungezügelten Kapitalismus ist sich jeder selbst der Nächste. Fazit: Stoppt Boelkestein!

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