Al Qaida und die anthropomorphe Personifizierung

© Eric Fricke

Sündenbock und Sensenmann
Angesichts schwer fasslicher Ereignisse neigt der Mensch dazu, komplexe Sachverhalte zu simplifizieren. Im Extremfall bedeutet dies eine Konzentration auf ein einzelnes, oft fiktives Wesen – die so genannte anthropomorphe Personifizierung. So wurden Wetterphänomene mit Göttern in Verbindung gebracht, in späteren monotheistischen Religionen begann die Fokussierung alles Unerklärlichen auf eine Wesenheit, auf Gott. Speziell im christlichen Kulturkreis finden wir hier das Bild des bärtigen Alten. Ein weiteres Beispiel für eine anthropomorphe Personifizierung ist der Tod in Gestalt eines Skelettes mit Sense, ein Bild, das vermutlich im Mittelalter entstand. Auch der "Sündenbock" gehört in diese Kategorie – ursprünglich ein Schafsbock, dem man symbolisch die Schuld an erlittenem Unheil auflud und der dann als Opfergabe dargebracht wurde.
Solche Symbole mögen in früheren Zeiten, mangels hinreichender wissenschaftlichen Erklärungen, hilfreich gewesen sein. Heute, da wir angeblich aufgeklärt sind, neigen wir dazu, eine solche Symbolik zu belächeln; angesichts dessen, was uns die Medien frei Haus liefern, hat das Bild des knöchernen Todes seinen Schrecken verloren und genießt allenfalls noch Kultcharakter in den satirischen Phantasy-Romanen des Briten Terry Pratchett.
Dennoch sind wir auch heute nicht frei von solchen Simplifizierungen, denn in einer Welt der zunehmenden Spezialisierung und Diversifizierung einerseits und der immer stärker werdenden Vernetzung und Verzahnung ursprünglich einzelner Aspekte unseres Lebens andererseits mögen uns solche Vereinfachungen eine ähnliche mentale Stütze bieten wie einst der Sensenmann den Menschen des Mittelalters. Doch genau hierin liegt ein Risiko, nämlich das, den Blick auf die Tatsachen zu verlieren.

Aum = Al Qaida?
Nach den furchtbaren Anschlägen in den USA, in Madrid und in London konzentrierten sich die Medien auf eine Terrororganisation namens "Al Qaida". Nun hatte die Ursache des Grauens einen Namen, nun konnte die verschreckte Bevölkerung ihre Furcht gewissermaßen auf einen Punkt konzentrieren. Das implizierte auch: Würde es gelingen, des Kerns jener Organisation – und insbesondere des Anführers Osama Bin Laden – habhaft zu werden, wäre der Schrecken vorbei. Das Problem: Al Qaida existiert möglicherweise gar nicht – jedenfalls nicht in Form einer straff geführten, hierarchischen Organisation oder eines Zellenverbandes, wie er von europäischen Terrororganisationen bekannt ist. Inzwischen erklären selbst die Geheimdienste, wenn auch zögerlich, dass die Attentäter eher unabhängig von Organisationsstrukturen seien, dass es keine zentrale Kommandoebene gäbe. Das aber bedeutet: Selbst wenn es gelänge, all jene dingfest zu machen, die auf der Liste (arabisch: al qaida) auftauchten, auf denen alle vermerkt wurden, die mit dem Umfeld Osama Bin Ladens in mehr oder weniger engen Kontakt kamen, wäre das nicht mit einem Ende des Terrors gleichzusetzen. In Geheimdienstkreisen einigte man sich daher auf folgende Sprachregelung: Von einem Zusammenhang mit Al Qaida sei dann zu sprechen, wenn ein Anschlag in Umfang und Auswirkung derer von Madrid und London stattfände mit der Zielsetzung, ein möglichst großes mediales Echo auszulösen und die Bevölkerung zu verunsichern. Das jedoch ist Augenwischerei. Denn so gesehen, wäre auch das Giftgasattentat auf die U-Bahn von Tokio durch die Aum-Sekte (japanisch: O mu Shinrikyo) im Jahre 1995 ein Al-Qaida-Anschlag gewesen.

Schuldzuweisungen
Auch der Versuch, sich auf den Irak als "Reich des Bösen" – personifiziert durch Saddam Hussein (peinlicherweise ein Diktator von Amerikas Gnaden) – zu konzentrieren, dürfte als misslungen anzusehen sein. Nicht nur, dass das Land keine Massenvernichtungswaffen besaß – der Terrorismus wurde erst durch den Einmarsch der US-Armee richtig beflügelt. Nun könnte man eigentlich geneigt sein, jenen zuzustimmen, die für einen sofortigen Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak plädieren. Zweifellos würde das den in Europa agierenden Terroristen einigen Wind aus den Segeln nehmen. Leider ist die Lösung auch hier nicht ganz so einfach: Nachdem die öffentliche Ordnung im Irak durch die Invasion zusammengebrochen war und sich bis zum heutigen Tage nicht wieder stabilisiert hat, wäre ein sofortiger, vollständiger Abzug der US-Truppen vermutlich das Startsignal zu einem Bürgerkrieg – ein Dilemma, das die USA der irakischen Bevölkerung und natürlich sich selbst eingebrockt hat.
Ebenso ist der Vorwurf einer pauschalen Mitschuld arabischer Führer, wie sie die Überschrift der Badischen Zeitung vom 14. Juli 2005 andeutet, zu kurz gegriffen. Die arabische Welt besteht aus voneinander unabhängigen Staaten, die teilweise nicht unbedingt freundschaftlich verbunden sind und die in ihrer Mentalität, Sprache und Auslegung des Korans erhebliche Unterschiede aufweisen. Die westliche Presse tendiert dazu, die Region von Marokko bis Pakistan als Einheit zu sehen, aber "die Araber" in diesem Sinne gibt es nicht (auch wenn das manche Politiker aus dieser Region gerne so sähen). Wollen sich ein Marokkaner und ein Iraner unterhalten, setzt dies voraus, dass sie beide das Hocharabische beherrschen, da ihre jeweiligen eigentlichen Muttersprachen sich zu sehr voneinander unterscheiden.

Terroristen aus Freundesland und Terroristen als Freunde
Zweifellos gibt es arabische Politiker, die dem Terrorismus nahe stehen. Erstaunlicherweise stammten aber zum Beispiel die Attentäter vom 11. September 2001 (mit einer Ausnahme) nicht aus den Regionen, die man gemeinhin mit dem Terrorismus in Verbindung bringt, sondern aus einem Land, mit dem der Westen, allen voran die USA, traditionell gute Beziehungen pflegt, nämlich Saudi-Arabien. Dass dieses Land in punkto Demokratie und Menschenrechte kein Stück besser dasteht als der Irak zu Zeiten Saddam Husseins (und in Bezug auf Religionsfreiheit, konkret: die Existenz christlicher Religionsgemeinschaften im Irak, sogar bedeutend schlechter), scheint in diesem Zusammenhang wenig zu interessieren.
Auch die bisherige Personifizierung des Terrorismus (jedenfalls, bis Saddam Hussein in den Vordergrund geschoben wurde) gilt nun plötzlich wegen erfolgreich angebahnter Geschäftsbeziehungen als guter Freund des Westens. Die Rede ist vom libyschen Staatschef Muammar el-Gaddafi, der es sich 2003 sogar erlauben konnte, die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zuzugeben und dessen Aussage, man habe diese Entwicklungen aber wieder eingestellt, als absolut glaubwürdig akzeptiert wurde. Aber nicht nur Geschäfte winken: Libyen soll politischer Erfüllungsgehilfe der EU werden – in Form einer Schutzzone, in der potenzielle Migranten festgehalten werden können, bevor sie eine Chance haben, mit einem Fischerboot nach Europa überzusetzen.
Wenn es um Geschäfte – und da insbesondere um Öl – geht, ist jeder Verbrecher als guter Freund recht; die jeweiligen Regierungen der USA hatten dies schon seit den ersten Bohrungen in arabischem Wüstensand stets unter Beweis gestellt, indem sie auf Wunsch der Ölkonzerne ihnen genehme Regionalherrscher installierten, über deren Demokratieverständnis sich keiner der Verantwortlichen Gedanken machte.

Terroristen aus dem Rand unserer Gesellschaft
Es dürfte an der Zeit sein, die eingefahrenen Stereotypen und "einfachen Lösungen", die die Medien für uns bereithalten, beiseite zu schieben, die da lauten: Die islamisch geprägte Bevölkerung der arabischen Staaten lehnt unsere westliche Lebensart ab, weswegen radikale Kräfte versuchen, diese mit Gewalt zu zerstören. Dagegen müssen wir ebenso radikal vorgehen.
Dieses Denkmuster ist aus der Kriminologie abgeleitet: Es gibt einen Täter, der aus eigenem Interesse eine Straftat begeht, zum Beispiel jemanden, der eine Bank überfällt, weil er kein Geld mehr hat. Terrorismus ist aber nicht mit gewöhnlicher Kriminalität vergleichbar.
Offenbar geht die Ablehnung westlicher Lebensart in diesen Ländern nicht so weit, dass Jugendliche in Tanger auf den Besuch von Rockkonzerten und Diskotheken verzichten würden. Wer es sich leisten kann, kauft in Teheran lieber einen Mercedes als ein japanisches Fabrikat. Selbst in streng religiös geprägten Ländern scheint niemand ein schlechtes Gewissen dabei zu haben, ein Auto amerikanischer Herkunft zu fahren. Mehr noch: Laut den Ermittlungen der britischen Polizei handelt es sich bei den Attentätern von London keinesfalls um vollbärtige Turbanträger, die aus fernen Wüstenstaaten angereist waren, sondern um britische Staatsbürger, die teilweise seit ihrer Geburt in England gelebt hatten und das Herkunftsland ihrer Eltern – Pakistan – allenfalls vom Hörensagen kannten. Das gemahnt nun weniger an das Klischee eines religösen Fanatikers als an den Fall Khaled Kelkals, der 1995 an Sprengstoffanschlägen in Eisenbahnzügen in Frankreich beteiligt war, bei denen acht Menschen starben und über 200 verletzt wurden. Kelkal war bereits mit zwei Jahren nach Frankreich gekommen, ohne dass er sonderlich religiös geprägt war. Auch sprach er kaum Arabisch. Was ihn allerdings prägte, war der allgegenwärtige Rassismus, der ihn ausgrenzte, und seine Umgebung, ein heruntergekommenes Stadtviertel, in dem landete, wer die Miete in der Lyoner Innenstadt nicht mehr bezahlen konnte. In diesen trostlosen Vorstädten fanden radikale Islamisten wie die algerische GIA ein hinreichendes Rekrutierungspotenzial im Kampf gegen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich.

Profiteure auf beiden Seiten
Welche Wirkung haben die Anschläge gesellschaftlich gesehen? Das Ziel, so heißt es, sei die Unterminierung der westlichen Lebensweise. Perfiderweise treffen sie Unschuldige, auch solche Menschen, die unser westliches Wertesystem kritisch hinterfragen. Mit diesen Anschlägen wird in Kauf genommen, dass sich der Volkszorn gegen andere Unschuldige richtet – gegen Menschen arabischer Herkunft und/oder muslimischen Glaubens beispielsweise, denen jeglicher Fanatismus ferne steht, wobei dieser Effekt durchaus beabsichtigt sein mag, da man möglicherweise erhofft, aus den derart an den Rand Gedrängten neue Mitstreiter rekrutieren zu können. Andererseits bedingt das eine verstärkte Solidarisierung der übrigen Bevölkerung, was nicht im Sinne der Attentäter sein kann.
Profiteure sind auf jeden Fall Politiker, die für eine verstärkte Überwachung der gesamten Bevölkerung plädieren und die seit 9/11 aufblühenden Unternehmen, die Sicherheitstechnik verkaufen. Der Zeitpunkt des Anschlags spielte auch den Teilnehmern des G8-Gipfels in die Hände, denen es erspart blieb, zuzugeben, dass keine echten Ergebnisse erzielt wurden – nach wie vor wird die Entwicklungshilfe in erster Linie von außen- und wirtschaftspolitischen Interessen geleitet, fehlt der Wille, auch da zu investieren, wo keine neuen lukrativen Märkte zu erschließen sind.
Ein Ziel haben die Terroristen allerdings erreicht: Die Demokratie in Europa und den USA beginnt zu bröckeln. Hier nur einige Vorschläge, die – von einer umfassenden Überwachung der Bürger und unbegrenzter Datenspeicherung einmal abgesehen – von deutschen Politikern gemacht wurden: Einsatz der Bundeswehr im Inland, auch zum Objektschutz (obwohl Soldaten keinerlei Ausbildung für Polizeieinsätze haben) oder der Wegfall der Trennung von Geheimdiensten und Polizei (die vom Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen war, da eben diese fehlende Trennung die Grundlage der Arbeit der Gestapo bildete). Letzterem Vorschlag hat sich sogar Hardliner Otto Schily unter Hinweis auf das 3. Reich widersetzt. Dass eine flächendeckende Überwachung mit Kameras keine zusätzliche Sicherheit bringt, wurde in London bewiesen – möglicherweise machte diese Überwachung aber sogar die Londoner Innenstadt als Anschlagsziel attraktiver, denn wenn die Attentäter nach einem Maximum an Aufmerksamkeit streben – was kann es dann Besseres geben, als seine Verbrechen vor Dutzenden von Kameras zu begehen? Die Angst, enttarnt zu werden, die möglicherweise einen gewöhnlichen Kriminellen von seinem Tun abhalten mag (beziehungsweise er daher seine Taten in unbewachten Bezirken ausübt), hat ein Selbstmordattentäter nicht. Bemüht sich ein Krimineller um ein Höchstmaß an Anonymität (wobei er es mit Sicherheit vermeiden wird, irgendwelche Dokumente mit sich zu führen), scheinen Selbstmordattentäter geradezu davon besessen zu sein, Papiere zur sicheren Identifikation mitzunehmen. Oder weshalb findet man regelmäßig selbst nach den verheerendsten Explosionen die auf wundersame Weise nur leicht angesengten Ausweise der Terroristen am Tatort?
Weiterhin drängt sich die Frage auf, weshalb eine angeblich straff gesteuerte Terrororganisation nicht längst darauf verfallen ist, ihre Angriffe breit gestreut auf die technische Basis des Westens vorzunehmen, anstatt Bomben zu legen wie radikale Einzeltäter vor hundert Jahren. Die Betriebssystemmonokultur unserer rechnergestützten Technik sollte es doch einfach machen, sie mit gezielten Viren- und DoS-Attacken in die Knie zu zwingen. Man denke an den Fall "Sasser", wo ein durchschnittlich begabter Schüler quasi mit Bordmitteln ein Virus erzeugte, das rund um den Globus Milliardenschäden anrichtete. Was würden da wirkliche Profis erreichen, zumal, wenn sie den Schädling weltweit abgestimmt ins Netz entlassen könnten? Ist Al Qaida dazu gar nicht in der Lage? Oder will man den Feind nicht mit den eigenen Waffen schlagen? Ist Al Qaida ebenso in den eigenen Klischees verfangen wie unsere westlichen Politiker?

Aktionismus und Scheuklappen
Es sind all dies Dinge, über die die Öffentlichkeit nicht gerne diskutiert, weil mancher Aspekt empfindlich an der eigenen, vorgefassten Meinung kratzt, weil es erfordert, die Scheuklappen abzulegen. Daraus resultiert nicht zuletzt der politische Aktionismus, den wir seit den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center erleben. Nach dem U-Bahn-Anschlag in London wurden in New Yorker Straßentunnels die Handynetze abgeschaltet, und zwar in Hinblick auf das Attentat von Madrid. Dort diente ein Handy als Impulsgeber für die Zündung des Sprengsatzes – nicht jedoch als Fern-, sondern als Zeitzünder mit der integrierten Weckfunktion, wozu das Handy – nach Stellen des Weckers – nicht einmal eingeschaltet sein muss. Das wäre im Gegenteil sogar ein Risiko, da eine zufällige Werbe-SMS des Providers dafür sorgen würde, dass die Bombe zur Unzeit explodiert. Somit bringt das Abschalten des Netzes nicht nur keinen Sicherheitsgewinn, sondern vergrößert sogar die individuelle Gefährdung, denn nach wie vor ist die statistische Wahrscheinlichkeit, durch ein Attentat umzukommen, erheblich kleiner als das, bei einem Unfall in einem Tunnel zu sterben, weil keine Hilfe über Mobiltelefone herbeigerufen werden kann.

Legen wir die Scheuklappen ab. Selbst wenn das bedeutet, bei der Analyse des Terrorismus auch auf einige peinliche Aspekte – wie unsere ebenso verschwenderische wie zerstörerische Lebensweise oder die Rolle der Globalisierung – zu stoßen.

15_7_05

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