Juventuphobie

© Eric Fricke

Im Haus der Jugend fand eine Gesprächsrunde über die Probleme der Anwohner mit dem Jugendzentrum statt; Moderator war SPD-Fraktionssprecher Armin Welteroth (wie merkt der sich eigentlich immer die Reihenfolge der Wortmeldungen? Macht er sich heimlich Notizen unter dem Tisch?). Stellenweise gab es ziemlichen Wellengang in der Diskussion. Dass mein Artikel zum Thema (er erschien auch in einer gekürzten Fassung als Leserbrief in der Badischen Zeitung) von den AJZ-Nachbarn Hiebe bekam, war von vornherein klar; erschreckend fand ich aber doch die Aussage "das Jugendzentrum abreißen und einen Parkplatz draus machen". Damit wissen die Jugendlichen immerhin, welchen Stellenwert sie haben.

Naturgemäß geht von jedem Veranstaltungsort ein gewisser Geräuschpegel aus. Das bestreitet niemand. Allerdings scheint die Lautstärke bei Konzerten gar nicht so sehr das Problem zu sein, aber da waren die Meinungen eher widersprüchlich. Nun, nachdem ich schon die Gelegenheit hatte, die akustischen Verhältnisse mit NX4U (3 Marshalls, 1 Fender Twin, 1 Fender Bassman, den Schlagzeuger nicht zu vergessen) zu testen, muss ich sagen, dass in der Tat sehr wenig nach draußen dringt – es sei denn, jemand öffnet die Tür. Dann bläst es, insbesondere im unteren Frequenzbereich. Hier wäre die Lösung aber eher einfach: Früherer Konzertbeginn, Zugang während der Veranstaltung nach Möglichkeit durch das Haus der Jugend, letzte Zugabe um Mitternacht. Aber, wie gesagt, das soll ja gar nicht so sehr das Problem sein, sondern es geht wohl mehr um die Leute, die im Gelände zugange sind: Zwölfjährige Schnapsleichen, motorisierte Technofreaks, die nächtens mit Infraschall-Bässen die Stabilität ihrer Windschutzscheibe testen (bauen die eigentlich das Auto um die Stereoanlage herum?), Rollerfahrer, die sinnlos im Kreis herumkurven und dabei rhythmisch am Gashebel drehen, dazu gibt es Spontanfeten rund um den Pizzaofen, an dessen Erbauer man inzwischen kein gutes Haar mehr lässt. Es handelt sich um den nämlichen Shawn Berlin, der nach der Errichtung des Ofens in der Lokalpresse als leuchtendes Vorbild gefeiert wurde. Für all das soll das AJZ ebenfalls verantwortlich sein, auch wenn die Vorkommnisse teilweise in größerem Umkreis stattfinden.

Dass aber das KSW-Gelände für einen bestimmten Typ Leute attraktiv ist, liegt eher an diesem Gelände selbst als am AJZ: Die Gewerbebetriebe sind nachts geschlossen, die wenigen Wohnungen dort fallen kaum auf, da sie zwischen den Betrieben integriert sind. Es herrscht praktisch kein Verkehr, es ist kaum jemand unterwegs, die Atmosphäre zwischen den Hallentoren und Schornsteinen ist insbesondere bei Nacht eine beinahe postapokalyptische. Abgerundet wird das Ganze durch eine Reihe stillgelegter Autos, die am Straßenrand auf bessere Zeiten warten, und quadratmeterweise unverputzten Ziegelstein. Kurz: Das perfekte Ambiente, um einen loszumachen. Nur: Was kann das Juze für Zwölfjährige, die nachts um drei Sauforgien veranstalten? Vielleicht sollte man da eher mal deren Eltern in den Hintern treten? Freunde und Nachbarn, wenn ein 15- oder 16-Jähriger am Samstagabend bis Mitternacht mit seinen Kumpels mal gepflegt ein oder zwei Bier trinkt, verliert doch da kein Mensch ein Wort drüber. Und wir haben alle in dem Alter unsere Erfahrungen gesammelt, auch wenn es mal ein paar Biere zu viel waren. Aber mit zwölf mitten in der Nacht bis zur Besinnungslosigkeit Schnaps saufen und vor Eintritt des Komas randalieren? Mein alter Herr hätte mir, bei aller Toleranz, links und rechts eine an die Ohren gehauen!

Dass die Anwohner solche Auswüchse nicht tolerieren wollen, ist absolut klar, aber man sollte sich an die Schuldigen halten, anstatt das Jugendzentrum, das wohl einigen ein Dorn im Auge ist, vorzuschieben. Es ist mit Sicherheit auch nicht Aufgabe des AJZ-Personals, solche Leute zu integrieren – die dortigen Jugendlichen sind keine Streetworker. Ebensowenig kann man ihnen zumuten, zu vermitteln oder für Ordnung zu sorgen, wenn es Randale gibt. Welche Autorität sollen 16- bis 18-Jährige einsetzen, wenn ich als Erwachsener von 12- bis 14-Jährigen den Götz zitiert bekomme oder den ebenfalls beliebten Klassiker "wissu eine auffe Fresse?". Schlägt man im Ernstfall zurück, steht am Ende der Anwalt der Eltern auf der Matte und man hat ein Verfahren wegen Körperverletzung am Hals. Nö, nö, Freunde und Nachbarn.

Andererseits: Jede Gesellschaft bekommt die Jugendlichen, die sie verdient. Krieg ist wieder ein probates Mittel zur Lösung von Problemen, das Niveau der Medien ist kaum noch zu unterbieten (aber vielleicht werden ja demnächst Muslime den Löwen vorgeworfen, das brächte Quoten!), Ballermann und Eimersaufen, Big Brother und Dschungelcamp, Arbeitsplätze werden zum Luxusgut, Politiker zu den Marionetten der Konzerne – Herrgott, sind das Aussichten! Da könnte man wirklich mit dem Saufen anfangen. Oder vielleicht doch etwas Sinnvolles tun wie die Jugendlichen im AJZ?

Seltsamerweise habe ich bis dato noch kein Jugendzentrum erlebt, wo es keine Probleme gab. In der Regel läuft so etwas in mehreren Phasen ab:
Phase 1: Die Musik ist viel zu laut. Anzeigen wegen Ruhestörung.
Phase 2: Das Jugendzentrum wird zum nahezu schalldichten Bunker ausgebaut. Es folgen Anzeigen wegen Ruhestörung, weil das Publikum nach Konzertende auf der Straße lärmt.
Phase 3: Wenn alles nichts hilft, wird das Jugendzentrum zum Drogenumschlagplatz erklärt. Begleitet wird Phase 3 gerne von erhebenden Stammtischgesprächen à la "den Typen dort gehört mal eine auf die Fresse gehauen und die Mädels mal richtig..." – na, Sie wissen schon. Und dann "alle ab ins Arbeitslager!"
Phase 4: Das Jugendzentrum wird dichtgemacht.
Phase 5: Die Jugendlichen hängen auf der Straße herum, womit ihr gesellschaftlicher Status mal wieder geklärt wäre.

Bei der Gesprächsrunde drängte sich mir immer wieder der Eindruck auf, dass, wenn das Argument "Lautstärke" nicht zieht, das nächste hervorgeholt wird. Derzeit befindet sich das AJZ eindeutig in Phase 2.

Erleben wir hier den klassischen Fall der Angst vor allem, was nicht Mainstream ist? Spezifischer: Eine Art "Juventuphobie" (die Lateiner, die sich jetzt totlachen, mögen statt dessen bitte einen konstruktiven Vorschlag beisteuern)? Wir erleben solche Ängste vor Minderheiten ja ständig: Muslime sind verkappte Terroristen, Türken tragen ein Springmesser mit sich herum (schönen Gruß an Yusuf, der immer eine Gitarre mitschleppt – ich hoffe, er hat noch keinen damit erstochen!), Sozialhilfeempfänger beuten unseren Staat aus, Ihre eigenen Vorurteile dürfen Sie hier selbst eintragen:

Ja, Jugendliche sind eine Minderheit – und das mit zunehmender Tendenz. Das heißt, dass sich die Probleme künftig eher noch verschärfen werden. Kennen Sie "Emil und die Detektive"? Unvorstellbar heute: Horden von Kindern! Und später die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge! Und jetzt, da die Republik allmählich vergreist und die Jugend zur Minorität wird, könnte bei den Älteren schon ein gewisses Unbehagen entstehen angesichts einer Generation, die sie allenfalls aus den Medien kennen – oder besser, zu kennen glauben: Jugendliche sind Satanisten, die nach dem Hören von Heavy Metal ihre Mitschüler erschießen. Jugendliche sind brutal. Sie erpressen Schutzgelder an den Schulen und mobben die unteren Klassen. Jugendliche sind ungebildet. Sie haben an nichts Interesse, sie sind leistungsunwillig und -unfähig. Ja, es gibt sogar einen spezifischen Begriff für das Treiben der Jugendlichen: "Jugendkriminalität"! Das sagt doch alles - oder haben Sie schon mal eine Statistik über Alterskriminalität gesehen? Jugendliche beklauen Passanten in den Städten. Jugendliche überfallen Rentner im Stadtpark. Sie sind verroht, kulturlos und kriminell.

In der Tat trifft das auf eine Minderheit dieser Minderheit zu (vermutlich gibt es sogar Türken mit Springmessern). Es hat sicher von jeher einen Bodensatz krimineller Jugendlicher gegeben. Nach dem 2. Weltkrieg beispielsweise gab es in Deutschland viele Jugendbanden, die in ausgebrannten Häusern und Luftschutzkellern lebten – das war auch ein Resultat von zwölf Jahren Nationalsozialismus. Nun, wie gesagt: Jede Gesellschaft bekommt die Jugendlichen, die sie verdient. Dazu gehört, nur so am Rande, auch PISA. Früher war so etwas aber kaum ein Thema für die Medien. Wenn man sich darauf einlässt, wie heute die Medien Einzelfälle ausschlachten, traut man sich schier nicht mehr, an einem Kindergarten vorbeizulaufen.

Was abseits des Mainstream ist, verursacht Angst. Angst verursacht Aggressionen. Es ist in diesem Zusammenhang verblüffend, teilweise sogar lächerlich, bis in welche Lebensbereiche man das beobachten kann: Ich benutze für meine Arbeit nicht, wie 90 Prozent der computerisierten Menschheit, einen Windows-PC, sondern einen Macintosh. Es ist erschreckend, wie in Computerforen im Internet von Seiten des Microsoft-Mainstream reagiert wird, wenn sich einer der Teilnehmer als Mac-User outet. Man könnte eine Schimpfwörter-Datenbank anlegen.

So ist es kein Wunder, dass einige bei der Diskussion im Haus der Jugend anwesenden Nachbarn fleißig unter der Gürtellinie argumentierten. Das AJZ muss weg, die Folgen spielen keine Rolle. Ursachen der Probleme? Uns doch egal. Der Pizzaofen steht in der Nähe des Jugendzentrums, da muss man doch gar nicht weiterdiskutieren. Standortalternativen für ein Jugendzentrum? Geht uns doch nichts an. Diese Einstellung ist im Übrigen identisch mit der der nächtlichen Randalierer: Hier will einer schlafen? Geht uns doch nichts an.

Sprechen wir doch einmal über die Integration von Minderheiten. Nicht Muslime, nicht Ausländer, sondern Jugendliche. "Integration" ist für viele Angehörige des Mainstream gleichbedeutend mit kompromissloser Anpassung an dessen Gepflogenheiten bis zur Selbstaufgabe. Wenn wir unsere Jugend integrieren wollen, dürfen wir sie aber nicht ihrer Identität und ihrer Möglichkeiten zur Selbstfindung berauben. Jugendliche brauchen Freiräume – und die werden immer seltener. Unsere Städte werden "nachverdichtet", und das heißt nichts anderes, als dass die Bewohner ebenfalls "nachverdichtet" werden. Was, wenn sich Jugendliche irgendwo im nachverdichteten Zentrum treffen und sich um eine Ruhebank versammeln? Ohne Gedöns und ohne Pizzaschachteln und Bierflaschen durch die Gegend zu werfen? Man beachte die Blicke der Passanten. Man beobachte, wie sie die Straßenseite wechseln. Sehen Sie die Unsicherheit? Es sind die gleichen Reaktionen, wie man sie auch am Samstagmorgen auf dem Marktplatz beobachten kann, wo der Typ (muss ihn mal fragen, wie er heißt; er freut sich übrigens immer, wenn man ihm einen Jägermeister schenkt) mit dem Hund und dem Schild "BIN IN NOT" sitzt. Verblüffend, nicht wahr?

Es kann also nicht sein, dass man sich einzig und alleine auf das Thema "Lärmbelästigung" einschießt. Damit macht man es sich zu einfach, zumal man hier auch relativ leicht Abhilfe schaffen könnte. Vor allem aber, Freunde und Nachbarn: Wer sich "die KSW samt Hammerwerk" anstelle eines Jugendzentrums zurückwünscht, ist schlicht nicht glaubwürdig.

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