Der wirkliche "Sanierungsfall": Die Berliner Politik

© Eric Fricke

Der unbeirrbare Stumpfsinn, mit dem diese Kapitalisten ihre törichte Geldpolitik fortsetzen, immer weiter, immer weiter, bis zur Ausblutung ihrer Werke und ihrer Kunden, ist bewundernswert. Alles, was sie seit etwas zwanzig Jahren treiben, ist von zwei fixen und absurden Ideen beherrscht: Druck auf die Arbeiter und Export.
Für diese Sorte sind Arbeiter und Angestellte, die sie heute mit einem euphemistischen und kostenlosen Schmeichelwort gern "Mitarbeiter" zu titulieren pflegen, die natürlichen Feinde. Auf sie mit Gebrüll! Drücken, drücken: Die Löhne, die Sozialversicherung, das Selbstbewußtsein – drücken, drücken! Und dabei merken diese Dummköpfe nicht, was sie da zerstören. Sie zerstören sich den gesamten inneren Absatzmarkt.
Sie scheinen ihn nicht zu wollen – dafür haben sie dann den Export. Was dieses Wort in den Köpfen der Kaufleute angerichtet hat, ist gar nicht zu sagen. Ihre fixe Idee hindert sie nicht, ihre Waren auch im Inland weiterhin anzupreisen; ihre Inserate wirken wie Hohn. Wer soll sich denn das noch kaufen, was sie da herstellen? Ihre Angestellten, denen sie zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel geben, wenn sie sie nicht überhaupt auf die Straße setzen? Die kommen als Abnehmer kaum noch in Frage.
Kurt Tucholsky (1931)

Hurra, die Arbeitslosenzahlen sind gesunken! Ein Erfolg der großen Koalition! Angela Merkel lebe hoch!
Vielleicht sollte man sich die Zahlen doch einmal genauer unter die Lupe nehmen. Was in der Statistik beispielsweise nicht auftaucht, ist die Tatsache, dass es über 150.000 sozialversicherungspflichtige "Normalarbeitsverhältnisse" weniger gibt als im Vorjahr. In der gleichen Größenordnung gestiegen sind die Minijobs. Merke: Wer mehr als 15 Stunden wöchentlich arbeitet, ist nicht arbeitslos – egal, ob er von dem Job leben kann oder nicht.
In der Tat hat wenigstens die Anzahl der ALG-I-Empfänger abgenommen. Ob das aber ein Grund zur Freude ist? Denn gleichzeitig ist die Anzahl der ALG-II-Empfänger gestiegen. Ist es denn nun aber nicht so, dass wir tatsächlich eine halbe Million Arbeitslose weniger haben als letztes Jahr? Das ist halt eine Definitionsfrage. Wenn man darunter versteht, dass die Leute wieder einen Job haben, von dem sie leben können, muss man das verneinen. Denn über die Hälfte jener halben Million – rund 260.000 – sind nun 1-Euro-Jobber. Und schließlich tauchen in der Statistik jene nicht auf, die bislang noch gar nicht gearbeitet haben – junge Menschen, die eine Lehrstelle suchen: offiziell sind die nicht arbeitslos. Die Zahl der Lehrstellen ist im Vergleich zum Vorjahr um vier Prozent zurückgegangen, die Anzahl der unvermittelten Bewerber ist um 15 Prozent gestiegen. Das waren im April, zum Zeitpunkt der "Erfolgsmeldung", immerhin über 370.000. Umfasste die Definition von "arbeitslos" auch all jene, die von ihrer Arbeit nicht leben können, obwohl sie mehr als jene 15 Stunden in der Woche arbeiten, wäre der geschichtlich psychologische Grenzwert von sechs Millionen längst auch offiziell überschritten. Jedenfalls erscheint einem die gegenwärtig kursierende Zahl von rund sieben Millionen Arbeitslosen unter diesen Umständen durchaus plausibel.

Agentur für Arbeit. Ein Dialog: "Wenn es in meiner Branche keine Möglichkeit mehr gibt, nehme ich auch irgend etwas anderes. Ich sehe da lediglich zwei Aspekte: Ich muss von dem Job meine Familie ernähren können, und er darf meine künstlerische Arbeit, zum Beispiel durch Verletzungsgefahr für meine Hände, nicht beeinträchtigen." – "Das ist schön, dass Sie so flexibel sind. Allerdings muss ich Ihnen gleich dazusagen: Selbst mit dieser Einstellung haben Sie heutzutage keine Garantie mehr, einen Job zu bekommen."

25 Jahre gearbeitet, ein Jahr arbeitslos, Sozialfall: So kann heute in Deutschland ein beruflicher Werdegang aussehen. Aber die sind ja alle selbst schuld. Hans-Ulrich Jörges vom Stern sah bekanntlich schon 2004 den Kommunismus heraufziehen, weil in unserem Land Arbeitslosen die Grundexistenz mehr schlecht als recht gesichert wird. Diese menschenverachtende Hetze hat sich nicht nur fortgesetzt, sie ist schlimmer geworden. Und wenn Artikel auf "Stürmer"-Niveau, wie sie "Bild" über eine ALG-II-Empfängerin brachte, die angeblich "auf Staatskosten in einer Luxusvilla" lebt (was frei erfunden war), den Volkszorn nicht so recht auf jene fünf (oder sieben) Millionen faule Säcke richten können, behilft man sich mit Manipulationen. Durch geschickte Fragestellung in einer Umfrage erfuhren wir, dass die große Mehrheit der Bevölkerung die Forderung der CDU/CSU unterstützt, die Hartz-Reformen grundlegend zu überarbeiten. Gefragt wurde, ob Hartz IV "grundlegend reformiert" oder "nur ein bisschen überarbeitet" werden solle. Klar, "grundlegende Reformen" wollen beide, die neoliberalen Kräfte ("am besten nur noch Essensgutscheine für Arbeitslose") wie die (potenziell) Betroffenen, die gegen den zunehmenden Druck protestieren. Veröffentlicht hat diesen Gehirnwäsche-Versuch Spiegel online. Man erinnere sich: Der Spiegel war einmal ein kritisches Magazin, das stets fundiert hinterfragte und nicht davor zurückschreckte, Politikern auf die Füße zu treten. Inzwischen ist er ein Sprachrohr der Neocons und schreckt nicht einmal vor Manipulationen zurück, über die man sich hier empörte, als sie in kommunistischen Zeiten von "Neues Deutschland" (seinerzeit DDR) oder der "Prawda" (Sowjetunion) verbreitet wurden.

Agentur für Arbeit. Ein Dialog: "Es sind jetzt schon zweimal Unterlagen von mir bei Ihnen verschwunden und erst nach mehreren Telefongesprächen wieder aufgetaucht. Ist ja auch nicht das Wahre." – "Da haben Sie schon recht. Aber wir sind hier personell völlig unterbesetzt, wir kommen da teilweise kaum noch nach." – "Schön. Ich bin arbeitslos. Wann kann ich bei Ihnen anfangen?" – "Wenn's nach mir ginge, sofort. Aber es ist halt kein Geld da..."

Die Hartz-IV-Empfänger ruinieren unseren Sozialstaat. Weil sich Bedarfsgemeinschaften aufteilen, gibt es angeblich eine Kostenexplosion. "Schmarotzer" und "Parasiten" (so die regierungsoffizielle Sprachregelung) nutzen, wie es heißt, das System bis zum Anschlag aus. Ex-Superminister Wolfgang Clement, der bereits für eine Hetzkampagne des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit sowie eben jene an Nazi-Jargon erinnernde Diffamierung Arbeitsloser verantwortlich war, berichtete bei Christiansen von einer Missbrauchsquote von 25 Prozent.
Das ist schlimm. Das ist erschreckend, wie ein Mensch vor laufenden Fernsehkameras lügen kann, ohne dabei rot zu werden. Und die gleichgeschaltete Presse steigt voll darauf ein, wie stets. Die Arbeitsagenturen konterten schnell mit ihren eigenen Zahlen, die von einem "Missbrauch von unter fünf Prozent" sprachen, "eher von drei Prozent", da in den fünf Prozent auch ein Anteil von Fällen enthalten sei, der sich dann als harmlos herausstelle – zum Beispiel wegen Krankheit verspätet abgegebene Unterlagen. Aber wer erregt mehr Aufmerksamkeit? Ein prominenter Politiker, der medienwirksam den Untergang des Sozialsystems herbeidichtet, oder ein paar anonyme Arbeitsagenturleiter, die von ihrer Statistik erzählen?
Es ist nicht so, dass es nicht eine gewisse Kostensteigerung gegeben hat. Man muss sich nur wundern, dass sie nicht höher ausgefallen ist. Das allerdings hängt auch damit zusammen, dass die Kostenstellen teilweise andere sind. Es gibt inzwischen nämlich eine regelrechte Arbeitslosenindustrie. 1-Euro-Jobber sind auf dem Umweg über gemeinnützige Institutionen längst im regulären Arbeitsmarkt gelandet. Die Stadt Freiberg in Sachsen wollte die Gebäudereinigungskosten senken und engagierte ein Unternehmen, das staatlich bezuschusste Minijobber beschäftigte: Was Freiberg sparte, zahlen jetzt alle. Immer mehr Unternehmen profitieren davon, dass der Staat Niedriglöhne subventioniert. Die Arbeitgeber können die Löhne immer weiter absenken, weil sie bei vielen Beschäftigten die Sicherheit haben, dass der Staat die Leistungen aufstockt. Wer einen 1-Euro-Jobber einstellt, kassiert ein Mehrfaches dessen, was dieser erhält.
Franz Müntefering äußerte anlässlich einer SPD-Fraktionssitzung einmal: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Wenn die Arbeit jedoch nicht ausreicht, um zu essen, fällt so ein Satz in die gleiche Kategorie wie "Arbeit macht frei", oder, wenn es (zumindest zeitlich) etwas aktueller sein soll: "Sozial ist, was Arbeit schafft".

Frustriert von Deutschland wandern so viele Deutsche aus wie seit 122 Jahren nicht mehr. [...] Da gibt es in Deutschland geradezu eine hysterische Debatte über die demografische Entwicklung, die vielleicht in ein paar Jahrzehnten zu Buche schlagen wird. Über eine ganz aktuelle Bevölkerungsentwicklung [...] wird bisher kaum geredet, nämlich dass nach Schätzungen im letzten Jahr 250.000 Deutsche ausgewandert sind. Warum wohl?
www.nachdenkseiten.de

Es ist ja kein Wunder, dass die Arbeitslosen nicht arbeiten wollen: Dank Hartz IV sind sie so gut versorgt, dass sich das Arbeiten nicht mehr lohnt. Ergo sind die entsprechenden Sätze viel zu hoch und sollten schleunigst gesenkt werden, am besten noch in Verbindung mit einer Art Wiederbelebung des guten alten Reichsarbeitsdienstes einschließlich Morgenappell in der Arbeitsagentur – jedenfalls wenn es nach Stefan Müller von der CSU geht. Was ist denn nun der Knackpunkt – dass Hartz IV so hoch angesetzt ist? Oder dass es Menschen gibt, die mit einer Vollzeitstelle unter dem Existenzminimum liegen? Mindestlöhne will die Politik keine – oh Gott, das schadet der Wirtschaft! De facto gibt es sie schon; die zahlen wir alle, wenn der Staat Hungerlöhne auf das Existenzminimum bringen muss. Und das inzwischen bei Hunderttausenden!
Ob es für den Staat billiger ist, wenn ein 1-Euro-Jobber subventioniert wird, als wenn dieser daheim auf bessere Zeiten wartet, ist ohnehin fraglich. Aber vor allem drängt sich eben die Frage auf: Wie kann es sein, dass ein Vollzeitbeschäftigter am Monatsende weniger auf sein Konto bekommt als ein ALG II-Empfänger, der Lohnbezieher somit noch weiter als jener unter dem Existenzminimum liegt?
Die Aussage, dass mit Hartz IV das Existenzminimum gesichert sei, ist ohnehin fraglich. Viele Sozialhilfeempfänger sind mit Hartz IV schlechter gestellt als zuvor – obwohl doch die ursprüngliche Sozialhilfe angeblich bereits das Existenzminimum darstellte. Immerhin kam früher bei Familien wenigstens noch das Kindergeld hinzu, auch gab es die Möglichkeit, eine Beihilfe für Haushaltsgeräte zu bekommen, wenn beispielsweise die Waschmaschine streikte. Das ist vorbei – sogar das Kindergeld wirkt sich nun leistungsmindernd aus. Dass dieser Staat sich zu einer gigantischen Umverteilungsmaschinerie von unten nach oben entwickelt hat, zeigt sich auch beim Elterngeld: Wer gut verdient, darf sich über 67 Prozent seines bisherigen Einkommens freuen, der Rest wird mit 300 Euro abgespeist. Glaubt man den Politikern und den Medien, sind die Schmarotzer jene, die beantragen, was ihnen von Gesetzes wegen zuerkannt ist – zum Beispiel durch die erwähnte Aufsplittung von Bedarfsgemeinschaften. Wenn das jedoch so von den Urhebern nicht vorgesehen war, muss man sich fragen, weshalb das Gesetz dann nicht anders formuliert wurde. So kommt man notgedrungen zum Schluss: Unsere Politiker sind schlichtweg unfähig; jede Attacke gegen jene, die sich nehmen, was ihnen legal zusteht, ist nichts weiter als ein Eingeständnis des eigenen Versagens!

Allianz: minus 7 500 Stellen
Der Konzern will bis 2008 im Versicherungsgeschäft 5000 Jobs streichen. Bei der Tochter Dresdner Bank gehen 2500 Mitarbeiter.
DaimlerChrysler: minus 8500 Jobs
Der Konzern kappt beim Autobauer Mercedes 8500 der 93000 Arbeitsplätze. Das Unternehmen strebt Vertragsauflösungen an.
Deutsche Telekom: minus 32000 Stellen Beim Telefonkonzern fallen bis 2008 rund 32000 Jobs weg, darunter 10000 Beamtenstellen.
Siemens: minus 11000 Stellen
Der Traditionskonzern zerschlägt seine Telekomsparte: Die Netzwerk-Sparte fusioniert mit der finnischen Firma Nokia; bis zu 9000 Jobs in Deutschland weniger. Die IT-Tochter SBS entlässt 2400 Mitarbeiter.
Schering: minus 6000 Stellen
Das Berliner Pharmaunternehmen fusioniert mit dem Chemiekonzern Bayer. Auf der Strecke bleiben 6000 Jobs – vornehmlich in Berlin.
Volkswagen: minus 20000 Jobs
Der Autobauer will in seinen deutschen Pkw-Werken bis 2008 bis zu 20000 Stellen streichen.

www.berlinonline.de

Zehntausende Stellen, die in den nächsten Jahren verloren gehen werden. Aber es wird noch schlimmer kommen. Die RFID-Technik (Radio Frequency Identification) sitzt in den Startlöchern: Produkte, die mit solchen Chips versehen sind, können berührungslos von entsprechenden Scannern erfasst werden. Eine von vielen möglichen Anwendungsbereichen liegt in der Schaffung von Supermärkten ohne Kassiererinnen. Lassen wir einmal die datenschutzrechtlichen Risiken dieser Technik außen vor: Amerikanische Marktforscher rechnen alleine für die USA mit einem Einsparpotenzial von vier Millionen Arbeitsplätzen durch RFID! Kalkuliert man (unter Nichtbeachtung unterschiedlicher wirtschaftlicher Strukturen) auf der Basis der Gesamtbevölkerung, so ergäbe sich für die Bundesrepublik ein Einsparpotenzial von fast 1,2 Millionen Arbeitsplätzen. Bei solchen Größenordnungen muss man sich über ein paar hunderttausend hin oder her nicht streiten...

Ökonomisch eigenverantwortlich betrachtet, zahlt es sich da für Langzeitarbeitslose und solche, die es werden können, nicht mehr aus, anders als im Augenblick und allein zu leben. [...] Alles Geld, das in einer "Bedarfsgemeinschaft" von Eltern, Kindern, Gatten oder Lebensgefährten verdient wird, geht von dem eigenen Anspruch ab. So kommen Ehen, Partnerschaften, Groß- und Kleinfamilien, Patchworkverhältnisse aller Art auf den Prüfstand [...]. Das Familienmodell zahlt sich nur aus, wenn noch kleine Kinder im Spiel sind. [...] Hartz IV fördert die zeitliche und räumliche Zersplitterung der Gesellschaft. Seine Zielvorstellung ist die Monade. Der Menschentypus, den Hartz IV favorisiert, ist der Einzelkämpfer, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und weiter fortlaufend abbricht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Begriff "Patchwork" übrigens findet mittlerweile seinen Platz immer mehr im Berufsleben; ein anderer Begriff ist "McJob", was die Sache sicher direkter auf den Punkt bringt. Ein "Patchworkdasein" muss per se nichts Schlechtes sein; jeder, der in seiner Freizeit ernsthaft einer künstlerischen, sozialen oder auch politischen Tätigkeit nachgeht, führt in gewisser Weise ein "Patchworkleben". Der Künstler, der Hospizmitarbeiter, der Stadtrat hat sich seine Art zu leben freiwillig ausgesucht; in den meisten Fällen sicherlich, um sich selbst zu verwirklichen, um sein Leben zu erfüllen, aber auch, um für andere da zu sein, . Das Entscheidende bei sozial abstiegsbedrohten Menschen jedoch ist die Fremdbestimmung: Wenn das Patchwork eine Notwendigkeit zum Überleben wird, geht dies normalerweise mit einem Verlust an soziale Bindungen einher – eine Entwicklung, die in den USA schon seit Jahren zu beobachten ist. Das Individuum, der Mensch zählt nicht mehr, er wird zur Verfügungsmasse. Die Verlierer sind die, denen soziale Bindungen, die Familie, ihr Engagement in ihrem Umfeld wichtig sind. Und hier erwächst dem friedlichen Zusammenleben, ja, selbst der Demokratie in diesem Lande, eine große Gefahr.

[Die Priesterschaft] kann die angemessenen Rituale vorschreiben – und wie alle guten Politiker können die Priester den Erfolg für sich in Anspruch nehmen und jemand anderem die Schuld zuschieben, wenn sie etwas falsch machen. "Was, Henry ist von einem Löwen gefressen worden? Nun ja, dann wird er wohl nicht den richtigen Respekt gezeigt haben, als er dem Löwengott sein tägliches Opfer darbrachte." – "Woher wisst Ihr das?" – "Na, wenn er den richtigen Respekt gezeigt hätte, wäre er nicht gefressen worden."
Terry Pratchett/Ian Stewart/Jack Cohen: "Rettet die Rundwelt"

Die meisten meiner Gesprächspartner gehen mit meiner Ansicht konform, dass sich über kurz oder lang ein gewaltbereites Potenzial bilden wird. In anderen Ländern haben sich eigene Kulturen der Selbstverteidigung bei sozialen Missständen entwickelt; in Frankreich sind die Autobahnen schneller blockiert, als über ein entsprechendes Gesetz abgestimmt werden kann. In Deutschland funktioniert dies offenbar nicht. So steigt der Druck, bis er sich ein Ventil über radikale Kräfte sucht. Im Gegensatz zu den Siebzigerjahren könnte eine radikale Gruppierung heute durchaus auf eine gewisse Zustimmung in den Teilen der Bevölkerung stoßen, die von der derzeitigen Lage besonders betroffen sind. Das immerhin scheint man – trotz aller sonstigen Ignoranz der Berliner Elite gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung – in Politikerkreisen zu ahnen. Nicht umsonst wird die Überwachung verschärft, wird über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren diskutiert: Stichwort Terrorismus. In der Tat dürfte aber in absehbarer Zeit das Risiko eines Anschlags aus der eigenen Bevölkerung größer sein als das eines Al Qaida-Schläfers. Das Perfide daran: Ein entsprechender Anschlag würde umgehend zu einem weiteren Abbau von Bürgerrechten führen, würde die Situation eher verschärfen als entspannen. Hier mag man sich wiederum fragen, ob das nicht gerade im Interesse der Regierenden läge, um den Systemumbau um so radikaler voranzubetreiben. Das ließe sich freilich weiterspinnen, um dann beim Celler Loch zu landen. Für die jüngeren Leser: Ein Sprengstoffanschlag auf die Justizvollzugsanstalt in Celle im Juli 1978 erwies sich als Aktion der niedersächsischen Landesbehörde für Verfassungsschutz.

Um ein Land derart umzukrempeln, wie es bei uns derzeit geschieht, muss der Widerstand seiner Bewohner gebrochen werden. Am einfachsten ist es, wenn der Bevölkerung wieder und wieder suggeriert wird, wie schlecht es um Deutschland steht. Dafür sorgen Politiker und Konzernchefs bei jeder Gelegenheit, übrigens auch mit Vorliebe bei Vorträgen im Ausland, wo sich fassungslose französische, britische oder amerikanische Unternehmer anhören dürfen, dass es nichts Schlimmeres als einen Standort in Deutschland gäbe. Und Angela Merkel sekundiert: "Dieses Land ist ein Sanierungsfall!" Und daher muss man Abhilfe schaffen – mit den gleichen Rezepten seit Kohls Zeiten, und wenn es nicht funktioniert, wird schlicht die Dosis erhöht. Und wenn in Deutschland dann endlich die Lohnsklaverei eingeführt ist, taugt dieses Land auch wieder als Standort. Oder so ähnlich.
Vielleicht mag man die hier unterstellte absichtliche Demontage Deutschlands als Verschwörungstheorie belächeln. Aber die Verbrecher an diesem Land sind namentlich bekannt. Und wenn wir hier stellvertretend die Mitglieder der Hartz-Kommission aufführen, sollte man angesichts ihrer beruflichen Herkunft (man beachte: zwei Alibi-Gewerkschafter, davon eine Alibi-Frau) zumindest ein bisschen nachdenklich werden:

  • Kaum ging die Periode der relativen Stabilisierung (1924 bis 1928) zu Ende, schon begann mit der Diskussion über wachsende "Soziallasten"ein argumentativer Sturmlauf gegen den Wohlfahrtsstaat. Hauptträger dieser Angriffe waren Großindustrielle des Ruhrgebiets, die hofften, das Versicherungs- durch das Fürsorgeprinzip ersetzen, sich einer paritätischen Finanzierung des Sozialsystems entziehen und ihre Gewinne auf diese Weise steigern zu können. Ein intellektueller Wortführer der Bewegung zur Zerschlagung des Weimarer Sozialsystems hieß Gustav Hartz."
    Christoph Butterwegge: "Mit dem Sozialstaat stirbt die Demokratie. Eine Erinnerung an die Weimarer Republik – Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der Situation heute."

    Wer seinerzeit lautstark die Unterdrückung der DDR-Bevölkerung anprangerte und jetzt schweigt, ist ein Heuchler. Die Methoden des Kapitalismus mögen andere sein, dank der technischen Entwicklung vielleicht auch subtiler, aber moralisch gibt es keinen Unterschied. Wenn es um Geld geht, wird auch das Grundgesetz zum Spielball, gilt auch ein Angriffskrieg nicht mehr pauschal als verwerflich, wenn es um die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands geht. So stellte der ehemalige Generalbundesanwalt Kay Nehm fest, dass laut Grundgesetz zwar die Vorbereitung zu einem Angriffskrieg illegal sei, nicht aber die Teilnahme, wenn die Vorbereitungen woanders stattgefunden haben. Immer lauter werden die Forderungen einflussreicher Kreise, nicht zuletzt aus der Wirtschaft, Deutschland doch endlich "auf Augenhöhe mit anderen Staaten" zu bringen und sich ebenfalls der lebensnotwendigen Ressourcen zu bemächtigen. Dass der Kongo das an Bodenschätzen reichste Land Afrikas ist, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Zu Kaisers Zeiten hieß es, Deutschland müsse auch einen "Platz an der Sonne" haben. Heute firmieren die neokolonialistischen Bestrebungen unter dem Begriff "Transformation der Bundeswehr".
    Zitate gefällig? Außenminister Frank-Walter Steinmeier: "Globale Sicherheit im 21. Jahrhundert wird untrennbar auch mit Energiesicherheit verbunden sein. [...] Und die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik [...] muss sich dieser strategischen Herausforderung stellen. Wir sind ein rohstoffarmes Land." – Generalbundesanwalt Kay Nehm: "Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift [Art. 26 GG; § 80 StGB] ist nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar, so dass auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten Angriffskrieg nicht strafbar ist."
    Was vor zwanzig Jahren noch Massendemonstrationen ausgelöst hätte, wird zur Selbstverständlichkeit. Hans-Jürgen Leersch von der "Welt": "Die Feststellung, die Bundesregierung werde zur Wahrung ihrer Interessen auch militärische Mittel einsetzen, ist nur konsequent. Und mit der Formulierung, daß sich die Regierung besonders jenen Regionen zuwenden werde, in denen Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, begibt sich Deutschland endlich auf gleiche Augenhöhe mit anderen Ländern, in denen dieses Verhalten eine Selbstverständlichkeit ist."
    Hatten wir das alles nicht schon einmal? Es packt einen das blanke Entsetzen, wenn man sieht, wo dieses Land hinsteuert... und während die Fußballweltmeisterschaft ihrem Höhepunkt entgegensteuert, bekomme ich allmählich eine leise Vorstellung davon, wie sich mein Großvater, ein aufrechter Demokrat, während der Olympischen Spiele 1936 gefühlt haben muss...

    27_06_06

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