Auf dem Weg zum totalen Überwachungsstaat

© Eric Fricke

Finaler Rettungsschuss für Sprayer
Graffitti können eine tolle Sache sein. In Unterführungen, zum Beispiel. Kunst anstelle von tristem Beton. Und manches, was da aus der Sprühdose kommt, ist ja in der Tat künstlerisch wertvoll. Unschön hingegen, wenn der Inhalt der Sprühdose auf Gebäuden landet. Auch auf den Wagen der S-Bahn ist das nicht das Wahre, und dass ein Spediteur tobt, wenn er morgens die Planen seiner Laster mit Tags verschandelt vorfindet, ist nachvollziehbar. Da 90 Prozent solcherart platzierter Graffitti auch nicht den elementarsten Ansprüchen an den Begriff "Kunst" genügen, liegt der Verdacht nahe, dass die betreffenden Sprayer nichts weiter als eine Sachbeschädigung im Sinn hatten. Hier gilt es zu differenzieren. Dass gegen die letztere Gruppe mit allen juristischen Mitteln vorgegangen wird, dürfte sicherlich breiten Konsens finden. Es sei aber die Frage erlaubt, ob Innenminister Otto Schily mit seinem jüngsten Vorstoß nicht ein klitzekleines Bisschen übers Ziel hinausschießt: Gegen Sprayer soll in Zukunft per Hubschrauber vorgegangen werden. Die sollen nächtens vor allem besonders gefährdete Viertel überfliegen und mit einer Wärmebildkamera illegales Treiben ausfindig machen, auf dass der brave Bürger ohne Sorgen um seine Hauswand den Schlaf des Gerechten schlafen kann. Wie er das tun soll, wenn dauernd ein Hubi über sein Anwesen knattert, verrät Otto Schily indes nicht. Und wäre ich ein Sprayer, würde ich beim ersten Knattern in der Luft den Tatort verlassen. Aber selbst wenn mich die Infrarotkamera bei meinem schändlichen Tun bereits erfasst hätte – was will der Pilot dann machen? Die Funkstreife verständigen? Bis die am Ort des Verbrechens eingetroffen ist, bin ich weg, es sei denn, der Pilot ordert gleich eine Hundertschaft, die das gesamte Areal umstellt. Alternativ könnte man den Sprayer auch gleich vom Hubschrauber aus erschießen, diese Methode birgt jedoch das Risiko von Kollateralschäden – die eben gerettete Hauswand könnte von Blutspritzern oder gar Querschlägern getroffen werden. Hier könnte also tatsächlich einmal der Fall eintreten, dass sich jemand an die Wand stellt, um nicht erschossen zu werden.

Für Liebespaare im nächtlichen Stadtpark werden ebenfalls schwere Zeiten anbrechen – auch sie werden beim Überfliegen von der Infrarotkamera erfasst, da mag das Gebüsch noch so dicht sein. Es muss daher mit einem Coitus Interruptus gerechnet werden, wenn die Beamten des nächstgelegenen Reviers das Strauchwerk umstellen, da der Infrarotmonitor im Hubi natürlich nicht zwischen trauter Zweisamkeit und einer Vergewaltigung zu differenzieren vermag. Sie kennen ja vielleicht den Witz, wo ein Polizist nächtens im Park patroulliert und aus einem Gebüsch ein lautes Stöhnen vernimmt. Vorsichtig rückt er näher und ruft: "Wird hier jemand umgebracht?" – Antwort aus dem Gebüsch: "Nein, im Gegenteil!"

TollCollect senkt Kriminalitätsrate
Aber eigentlich, Freunde und Nachbarn, ist das gar nicht so lustig. Denn diese Hubschrauberaktion ist nicht mehr und nicht weniger als der nächste Schritt zum totalen Überwachungsstaat. Mit dem Totschlagargument "Terrorismus und Kriminalität" wird die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt. Inzwischen ist praktisch jeder betroffen. Jeder hinterlässt einen Datenschatten, selbst wenn er nichts harmloseres als einen Besuch bei Großtante Wilhelmine unternimmt. Fährt man auf der Autobahn zum Altersheim, wird das Kennzeichen von der TollCollect-Anlage registriert, selbst wenn man nicht mit dem Sattelschlepper zu Tantchen unterwegs ist. Geschickterweise sind die deutschen Autokennzeichen so gestaltet, dass sie mühelos von einem Scanner erfasst werden können. Nebenbei ist das System so ausgelegt, dass eine Einführung einer PKW-Maut nichts mehr im Wege steht. Dann wiederum müssen die Daten zwecks Abrechnung auch gespeichert werden. Sagen Sie mal, weshalb fahren Sie eigentlich jeden Donnerstag in die Kreisstadt? Da wurde letzte Woche nämlich die Sparkasse überfallen. Haben Sie ein Alibi? Tante Wilhelmine? Schade, dass die keine gute Zeugin abgibt; mit ihren 97 Jahren ist sie nicht mehr so rege und behauptet, noch nie Besuch bekommen zu haben: "Aber da kommt jeden Tag einer mit einem weißen Kittel, Herr Wachtmeister, den müssen sie verhaften! Der hat nämlich mein Klavier gestohlen!"

Es gibt derzeit tatsächlich Planungen, sämtliche Autokennzeichen mittels der TollCollect-Anlagen mit den Fahndungslisten abzugleichen; Verkehrsminister Stolpe machte dazu gleich noch den Vorschlag, die Überwachungskameras von Tunnels für den gleichen Zweck einzusetzen.

Das kostet natürlich gewaltig Geld, aber für die Sicherheit darf nichts zu teuer sein. Notfalls muss dann halt mal wieder im sozialen oder kulturellen Bereich gestrichen werden. Übrigens sind es ausschließlich finanzielle und personelle Gründe, die uns derzeit noch vor dem elektronischen Blockwart bewahren.

Hilfssheriff im Internet
Da wir alle potenzielle Terroristen und Steuerbetrüger sind, dürfen unsere Konten seit dem 1. April überwacht werden. Leider muss ich dennoch alljährlich eine Steuererklärung abgeben, dabei könnte das zuständige Finanzamt einfach nur meine Kontendaten durchchecken und mir daraufhin den Steuerbescheid schicken. Oder gleich die fällige Steuer abbuchen, darauf kommt's ja nun wirklich nicht mehr an.

Im Internet gibt es bereits Suchmaschinen, die sich als Erfüllungsgehilfen der Staatsgewalt verdingt haben. Kennen Sie den Roman "Lolita"? Wie hieß denn gleich wieder der Autor? Bei "Seekoo" sollten Sie besser nicht suchen. Da kommt dann eine Meldung:
WARNUNG!
Wir von www.SeekOo.de unterstützen in keinster Weise illegale Handlungen, daher ist ihr Suchbegriff geblockt.
Ihre IP-Adresse lautet XX.XXX.XXX.XXX und wurde kurzzeitig gespeichert.
Bei wiederholter Suche werden wir ihre IP-Adresse an unsere Rechtsabteilung weiterleiten.

Nanu? Da kann doch was nicht stimmen? Noch ein Versuch: +lolita +buch. Eingabetaste. Wieder die gleiche blöde Meldung. Noch einmal: +lolita +buch +autor. Eingabetaste. Schon geht die IP-Adresse an den Staatsanwalt, und wenn der schlechte Laune hat, klingelt eines Morgens die Polizei und beschlagnahmt Ihren Rechner. Merke: Wer einen solchen Begriff eingibt, ist ein Pädophiler, auch wenn nach allgemeinem Usus der Pornoanbieter im Internet eine "Lolita" eine Mittzwanzigerin mit neckischen Zöpfchen und rosa Haarspange ist. Nebenbei, Aktbilder von Minderjährigen, die keine sexuellen Handlungen begehen, sind völlig legal, sonst müssten sämtliche Eltern verhaftet werden, die ein Bild von ihrem nackten Nachwuchs auf dem Eisbärenfell besitzen. Übrigens, ein 18-Jähriger und eine 17-Jährige dürfen miteinander schlafen, ohne strafrechtlich belangt zu werden. Sie dürfen sich dabei auch mit der Videokamera filmen. Wenn der 18-Jährige nun aber seiner minderjährigen Freundin den Film zeigt, macht er sich strafbar. Aber das nur am Rande...

Nächtliche Spaziergänge unter Adolf
Es ist natürlich nicht nur Otto Mielke, Verzeihung, Schily, der auf immer abstrusere Ideen kommt, um das Volk an der Kandare zu halten. SPD-Innenexperte Wiefelspütz möchte, dass die Geheimdienste Zugang zu Buchungsdaten von Autovermietern und Reisebüros erhalten. Auch soll der Zugang zu Kundeninformationen bei Banken erleichtert werden; klar, was der Agentur für Arbeit recht ist, kann dem Verfassungsschutz nur billig sein. Auch die geplante Gesundheitskarte soll für die Trenchcoat-Träger offenliegen. Na, wer nichts zu verbergen hat, hat doch auch nichts zu befürchten, oder? Hallo, Tante Wilhelmine, ich bin's, dein Lieblings-Großneffe! Kennst du mich nicht mehr?

SPD und Grüne sind sich einig, dass die Möglichkeiten zur Abnahme des genetischen Fingerabdrucks erweitert werden. "Freiwillige" Massenuntersuchungen sollen fürderhin ohne richterliche Genehmigung möglich sein. Das Bundesjustizministerium ist schon dabei, einen entsprechenden Gesetzesentwurf auszuarbeiten. Sind das eigentlich die gleichen Politiker, die sich seinerzeit über die Stasi-Bespitzelung in der DDR aufgeregt haben?

Wie war das gleich wieder? Ein Insektenschutz schützt vor Insekten. Ein Kälteschutz schützt vor Kälte. Der Verfassungsschutz... äh...

Auch die langfristige Speicherung unserer Kommunikationsdaten geschieht nur zu unserem Besten. Wenn erst einmal vollständig erfasst ist, wer mit wem telefoniert – sei es vom Festnetz oder per Handy (mit dem sich dann gleich noch der Standort feststellen lässt) oder eMails austauscht, gibt es keine Verbrechen und keinen Terrorismus mehr, nicht wahr? Je strenger die Überwachung der Bürger, desto niedriger die Kriminalitätsrate; alte Leute erzählen ja öfter, dass man damals unter Adolf nachts noch seelenruhig spazieren gehen konnte. Nun ja, vielleicht saßen die Verbrecher auch alle im Luftschutzkeller. Aber nehmen Sie doch mal heutige totalitäre Staaten: Gibt es da etwa Gefängnisse? Na also! Und falls es da ausnahmsweise doch einmal ein Gefängnis geben sollte, sitzen da natürlich ausschließlich Kriminelle drin. "Politische Gefangene? Hier bei uns in China? Hören Sie mal, das könnten wir uns doch gar nicht leisten, sonst würde uns der Schröder keine Waffen liefern, um Krieg gegen Taiwan... Hilfe! Was sollen denn die Handschellen? Hallo! Sie da! Rufen Sie schnell Amnesty International an!"

Technik verändert Gesetze
Inzwischen ist es offiziell: Verbrecher (oder solche, die es möglicherweise eventuell vielleicht sein könnten) dürfen per GPS überwacht werden. Das war notwendig, so die Verfassungsrichter, denn wegen des schnellen, "für den Grundrechtsschutz riskanten" Wandels in der Informationstechnik müssten die technischen Entwicklungen aufmerksam beobachtet werden. Der Gesetzgeber müsse "notfalls durch ergänzende Rechtssetzung korrigierend eingreifen". Also: die technische Entwicklung gefährdet unsere Verfassung. Das ist aber nur der Fall, wenn der gemeine Bürger sie nutzt. Und wenn die Gefahr besteht, dass der Bürger die Technik nicht im staatsfördernden Sinne benutzt, werden die Gesetze geändert. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?

Weshalb derzeit eine neue Volkszählung konzipiert wird, erschließt sich in diesem Zusammenhang auch nicht ganz. Man bräuchte die Bürger lediglich mit einem RFID-Chip auszustatten und an jeder Straßenecke ein Lesegerät aufzustellen. Das ist albern? Wieso? Es wird bereits daran gearbeitet, die Chips in die Personalpapiere einzubauen – bei den Reisepässen geht das doch schon. Mit RFID-Chips in den Geldscheinen lässt sich sogar nachprüfen, wieviel Kohle der Betreffende dabei hat. Auch daran wird EU-weit gearbeitet. Kein Witz. Als nächstes wäre dann die unkontrollierte Wohnraumüberwachung dran. Es gibt Leute, die das unter den entsprechenden Umständen für absolut denkbar halten, zum Beispiel der scheidende Datenschutzbeauftragte von Sachsen-Anhalt, Klaus-Rainer Kalk. Er hält die Grenze des Tolerierbaren für "bereits überschritten", bis Orwell sei es "nur noch ein kleiner Schritt". Er teilt auch nicht das häufig gehörte Argument, dass wir schließlich in einer Demokratie leben und somit ungefährdet seien, denn: "Die Geschichte zeigt, dass eine Demokratie durch wirtschaftliche Krisen umkippen kann, man denke nur an die Nazis."

Schon 1759 hatte US-Präsident Benjamin Franklin seine Mitbürger gewarnt: Wer ein Mehr an Sicherheit mit einem vorübergehenden Verlust von Freiheit erkaufen will, wird am Ende beides verlieren – die Freiheit und die Sicherheit.

Andere Gründe?
Nun, Freunde und Nachbarn, in Wirklichkeit geht es vielleicht nicht um unsere Sicherheit, sondern um etwas völlig anderes: In dem Maße, wie das soziale Ungleichgewicht zunimmt – und mit ihr die Unzufriedenheit einer steigenden Zahl Unterprivilegierter – wächst die Angst der Besitzenden. Was nützt dem Hartz-IV-gebeutelten Arbeitslosen eine flächendeckende Kameraüberwachung in den Städten? Soll damit verhindert werden, dass man ihm die leere Geldbörse klaut? Im gleichen Maße, wie die Sozialfälle mehr werden, wächst der Sicherheitsanspruch derer, die noch etwas zu verlieren haben. Wenn hier in Deutschland noch ein Markt boomt, dann ist es das Geschäft mit der Überwachungselektronik. Ist es etwa ein Zufall, dass vor nicht allzulanger Zeit die ohnehin schon strengen deutschen Waffengesetze verschärft wurden? Mittlerweile ist schon der Besitz einer Schreckschusspistole illegal, wenn man nicht den "kleinen Waffenschein" hat. Aber: Wer nachweisen kann, dass er besonders gefährdet ist, darf auch mit einer scharfen Waffe spazieren gehen. Und gefährdet sind die Besitzenden, zum Beispiel die Konzernbosse, aber auch Politiker.

Ergo: Es geht bei all diesen Maßnahmen weniger um Terroristen und sonstige Verbrecher. Es geht um uns alle. Es stellt sich die Frage: Warum sollten wir Politikern trauen, die ihrerseits keinerlei Vertrauen in die eigene Bevölkerung haben?
Erschreckend ist, wie wenig Widerstand sich gegen den totalen Überwachungsstaat regt. Haben wir nicht immer gesagt "Wehret den Anfängen"? Haben wir nicht ständig der Großelterngeneration vorgeworfen, sie sei untätig gewesen? Und dass wir das alles besser gemacht hätten?

Vielleicht sind die Mechanismen die gleichen wie damals, Anfang der Dreißigerjahre: Wenn einen das Damoklesschwert des wirtschaftlichen und sozialen Abstiegs bedroht, hält man lieber die Klappe und hofft, es möge andere erwischen und versucht, sich irgendwie durchzuwursteln. Noch kann sich jeder darüber informieren, was hier bei uns, aber auch in anderen Ländern abläuft. Aber auch das wird – "dank" eines zunehmend pervertierten Urheberrechts – immer schwieriger.

Vergessen wir nicht die scheinbar so angenehmen Seiten des freiwilligen Überwachtwerdens: Die Pay-back-Karte mag einen zum gläsernen Kunden machen, aber was kratzt das den schnäppchenjäger, wenn ihm das ein paar Prozente einbringt – von denen, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, gar nicht zu reden.

Vielleicht gibt es auch noch einen anderen Grund für die Gleichgültigkeit: Chronische Gehirnerweichung durch Fernsehshows wie "Big Brother". Überwacht zu werden ist ja sowas von geil!

14_04_05

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