Kein 
  Kapitalismus in Deutschland?
  
© Eric Fricke
 Mahlzeit!
  Wenn ich in der Zeitung lese, die Bürger sollten nicht jammern, sondern 
  gefälligst mit anpacken, um den Aufschwung zuwege zu bringen, packt mich 
  zuweilen das tiefe innere Verlangen, die Zeitung samt Werbebeilagen zu einer 
  soliden Keule zusammenzurollen und sie dem betreffenden Redakteur links und 
  rechts um die Ohren zu hauen.
Es ist sinnlos, weil sich Leistung nicht mehr lohnt. Da kann eine Belegschaft noch so ranklotzen, meinetwegen 45 Stunden in der Woche, da mögen die Gewinne noch so fließen  keiner kann mehr sicher sein, dass der Erste für ihn nicht der Letzte ist. Auch wenn das Thema für mich als Vegetarier nicht sehr nahe liegt, empfehle ich dem geneigten Leser mal einen Blick in eine durchschnittliche deutsche Großschlachterei. Nicht zur Bekehrung (Gemüse ist tatsächlich sehr gesund), sondern um sich davon zu überzeugen, was uns die vielgepriesene Globalisierung gebracht hat: Bundesweit sind in den vergangenen vier Jahren rund 26.000 ausgebildete Schlachter entlassen worden. Nicht etwa, weil der Fleischkonsum wegen diverser Skandale so stark zurückgegangen wäre  im Gegenteil, die Produktion ist sogar, nicht zuletzt auch dank kräftiger Exporte, erheblich gestiegen. Es gingen auch keine Arbeitsplätze verloren, nein, die deutschen Großschlächter haben vor allem das Personal ausgetauscht. Wo früher Hilfsarbeiter für 4.000 Mark im Monat Schweinehälften schleppten, schuften heute für ein paar hundert Euro Rumänen oder Polen, die sich, wenn sie sich wegen ausstehender Lohnzahlungen beschweren, auch schon mal zusammenschlagen lassen dürfen. Unter Adolf hatten wir Ostarbeiter aus den besetzten Gebieten, heute schließt man staatliche Verträge und kaschiert die Ausbeutung mit dem Begriff "Herkunftslandprinzip". "Fleisch ist ein Stück Lebenskraft"  Mahlzeit, kann ich da nur sagen.
Globalisierung 
  ist keine Naturkatastrophe
  Die Globalisierung kam nicht über uns wie ein Erdbeben oder ein Meteoriteneinschlag. 
  Es gab genügend Leute, die vor den Folgen gewarnt hatten, aber schlicht 
  ignoriert wurden  vor allem von jenen, die es besser hätten wissen 
  müssen, nämlich unseren Politikern. Aber gottlob können die stets 
  auf den 11. September 2001 verweisen, von dem sich die Welt immer noch nicht 
  erholt habe. Wir sind träge? Reformunwillig? Ja, Freunde und Nachbarn, 
  wer von denen, die noch mit Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufkommen 
  müssen, hat sich denn den Turbokapitalismus herbeigewünscht? Und wer 
  von denen, die von florierenden Unternehmen einen Tritt in den Hintern bekommen 
  haben, soll sich für ein staatliches Enteignungsprogramm namens "Hartz 
  IV" stark machen? Richtig, im Ausland gab und gibt es auch Reformen. Aber 
  auch einen gewaltigen Unterschied: Wer in Deutschland aus der Produktivität 
  zwangsverabschiedet wurde, hat  im Gegensatz zu unseren Nachbarländern 
   auch die besten Aussichten, draußen zu bleiben. Und wehe, er hat 
  dann nach einem Jahr noch ein halbwegs fahrtüchtiges Auto (bei den heutigen 
  Gebrauchtwagenpreisen ist eine Obergrenze für ein angemessenes Auto von 
  5.000 Euro ein Witz) oder ein paar Ersparnisse auf der Bank, dann ist er das 
  los. Oh nein, nicht immer; auch unter Hartz IV gibt es Privilegien für 
  die, die noch etwas mehr haben: Der Wohnungseigentümer darf in seinen eigenen 
  vier Wänden bleiben, der "unangemessen" in Miete Wohnende wird 
  zwangsumgesiedelt.
Gebetsmühlenartig, fast zwanghaft beschwören unsere Politiker den notwendigen Aufschwung, während eine raffgierige, an den ökonomischen und politischen Schaltstellen sitzende Clique holt, was zu holen ist. Brav haben wir jedes Vierteljahr unser Krankenkassen-Notopfer in der Arztpraxis abgeliefert, beim Zahnarztbesuch noch einmal, wir haben Zuzahlungen zu unseren Medikamenten geleistet, wir haben es in Kauf genommen, dass die Kassen ihre Leistungen mehr und mehr reduzieren. Und siehe da: Die Krankenkassen erholen sich, machen sogar wieder den einen oder anderen Gewinn. Na also, Freunde und Nachbarn, die gemeinsamen Anstrengungen haben sich doch gelohnt, oder? Ja, aber nicht für uns in Form gesenkter Beiträge, sondern für die Vorstände der Kassen, die sich ob dieser positiven Entwicklung erst einmal kräftig die Gehälter erhöht haben  um bis zu 20 Prozent! Eine Zeitung, bitte. Egal, welche. Hauptsache, sie ist schön dick und lässt sich gut zusammenrollen! Ehrlich, Leute, es steht mir hier oben!
Silvio Gesell 
   weiche von mir!
  Wir mögen über türkische Politiker lachen, die  wie der 
  dortige Umweltminister Osman Pepe  eine Änderung der lateinischen 
  Bezeichnungen für gewisse Tierarten vorschlagen: "Vulpes vulpes kurdistanica" 
  für einen in der Türkei lebenden Fuchs oder "Ovis armeniana" 
  für ein Schaf klängen zu separatistisch. Aber ich möchte bezweifeln, 
  dass der Realitätssinn unserer Bundesregierung stärker ausgeprägt 
  ist. Wachstum, Wachstum über alles. Silvio Gesell und seine (auch in Deutschland 
  immer öfter realisierten) Theorien zum Freigeld? Ein zinsloses Währungssystem, 
  das das Wachstum überflüssig macht? Weiche von mir, Satan! Wir haben 
  zwar 1,4 Billionen Euro Schulden, aber irgendwie, irgendwo, irgendwann wird 
  sich das schon regeln. Außerdem gibt es, dem Euro sei dank, währungstechnisch 
  ohnehin keine Alternative mehr. Nebenbei, in diversen arabischen Ländern 
  gibt es Banken, die ohne Zinsen wunderbar existieren. Dass die Scheichs dennoch 
  lieber bei der Deutschen Bank anlegen, liegt halt daran, dass sich das Geld 
  dort von alleine zu vermehren scheint. Freunde und Nachbarn, ich kann das Wort 
  "Wachstum" nicht mehr hören.
...und es geht 
  fleißig weiter...
  Unsere Politiker sollen froh sein, wenn sie sich hierzulande nur über das 
  Jammern beschweren müssen  in Frankreich macht man Nägel mit 
  Köpfen: Seit dem gestrigen 10. März ist das Land praktisch stillgelegt, 
  weil die Arbeitnehmer gegen Stellenabbau trotz Rekordgewinnen, Aushöhlung 
  der 35-Stunden-Woche und den zunehmenden Kaufkraftverlust auf die Straße 
  gehen. Und bei uns? DaimlerChrysler nimmt keine Neueinstellungen für freiwerdende 
  Arbeitsplätze mehr vor und zieht über kurz oder lang einen Personalabbau 
  trotz Jobgarantie in Betracht. Im Werk Bremen sollen die Wochenschichten ausgeweitet 
  und die Pausenzeiten halbiert werden, Mitarbeiterfortbildungen sollen künftig 
  in deren Freizeit stattfinden. Ein Drittel der US-Unternehmen mit Niederlassungen 
  in Deutschland plant einen Stellenabbau. Und die Financial Times dokumentiert 
  nüchtern die Einschätzung des Bundesverbandes deutscher Banken, dass 
  in den kommenden Jahren mehrere Zehntausend Arbeitsplätze im Bankgewerbe 
  abgebaut werden sollen. Ja, bei uns werden die Köpfe eingezogen, und jeder 
  hofft, dass der Kelch des sozialen Abstieges an ihm vorübergehen möge.
  Aber keine Bange, das Volk wird bei Laune gehalten: Wir bekommen jetzt die Fußball-WM. 
  Da werden Milliarden an Steuergeldern in Fußballstadien versenkt. Dafür 
  müssen sich die paar Fußballfans, denen das Wunder gelingt, an eine 
  Karte zu kommen, nahezu erkennungsdienstlich behandeln lassen. Wenn es nach 
  Otto Schily ginge, würden vermutlich von jedem Kartenkäufer genetische 
  Proben entnommen.
Neulich fiel mir das Berufserkundungs-Berichtsheft meines Schwagers in die Hände. Zu meiner Zeit gab's ja solche Praktika noch nicht. Das Heft stammte aus den Achtzigerjahren und war wohl bis in die Neunziger die "amtliche" Grundlage für Berufserkundungen von Schülern. Im Anhang fand ich ein Glossar, in dem die wichtigsten Begriffe aus der Wirtschaft erläutert wurden. Unter "Kapitalismus" stand, dass dieser Begriff auf die Bundesrepublik wegen ihrer sozialen Marktwirtschaft nicht anzuwenden sei. Jaja, ist auch schon wieder lange her...
10_03_05